Auktion: 520 / Evening Sale am 18.06.2021 in München Lot 376

 

376
Wassily Kandinsky
Gebogene Spitzen, 1927.
Aquarell und Tusche auf Papier, original auf Un...
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 1.105.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Gebogene Spitzen. 1927.
Aquarell und Tusche auf Papier, original auf Unterlagekarton montiert.
Barnett 807 (dort mit der Abb. der Bleistiftskizze aus der Handliste des Künstlers und mit "Standort: unbekannt" verzeichnet). Links unten monogrammiert und datiert. Verso auf dem Unterlagekarton vom Künstler handschriftlich datiert, betitelt und mit der Handlisten-Nummer "240" bezeichnet. Papier: 48,4 x 32 cm (19 x 12,5 in). Unterlagekarton: 59,5 x 42,5 cm (23,3 x 16,7 in).
In der Handliste des Künstlers ist die Arbeit unter den Aquarellen für November 1927 verzeichnet "xi 1927, 240, Gebogene Spitzen".
• Sensationelle Wiederentdeckung im Nachlass einer rheinländischen Privatsammlung.
• Der Verbleib von "Gebogene Spitzen" war der Kandinsky-Forschung seit mehr als 70 Jahren unbekannt.
• Die streng geometrischen Kompositionen der Bauhaus-Jahre gelten als die gefragtesten Papierarbeiten des Künstlers auf dem internationalen Auktionsmarkt.
• In der ausgewogenen Konstruktion zwischen Bewegung und ruhender Stabilität ein wunderbares Beispiel für die von Kandinsky in "Punkt und Linie zu Fläche" (1926) entwickelte Kunsttheorie
.

Wir danken Frau Vivian Endicott Barnett, New York, für die freundliche wissenschaftliche Beratung.

PROVENIENZ: Im Besitz des Künstlers (bis 1944).
Nina Kandinsky, Paris (1944-1949).
Rudolf Probst, Mannheim (mindestens seit 1944 in Kommission aus dem Eigentum / dem Nachlass des Künstlers, bis 1949).
Privatsammlung Nordrhein-Westfalen.

AUSSTELLUNG: Oktober-Ausstellung: W. Kandinsky - Neue Aquarelle; mit Erich Heckel - Zeichnungen aus den letzen Jahren, Radierungen, Holzschnitte, Lithographien, Ausstellung in der Galerie Ferdinand Möller, Berlin, Oktober 1928, Kat.-Nr. 16.
Exposition d’aquarelles de Wassily Kandinsky, Wanderausstellung Galerie Zak, Paris, 15.-31.1.1929, Kat.-Nr.15 (weitere Stationen: Den Haag, Kunstzaal de Bron, März - April 1929; Brüssel, Galerie Le Centaure, Mai - Juni 1929).
Wassily Kandinsky. Retrospektive, Hallischer Kunstverein und Städtisches Museum Moritzburg, Halle 4.-23.10.1929, o. Kat.
Kandinsky, Gummerson Konsthall, Stockholm, 15.-30.9.1932, Kat.-Nr. 20.

Die Voraussetzung

Wassily Kandinsky verändert gegen Ende der Jahre in Russland (Ende 1914 bis Ende 1921) seinen expressiven Vorkriegsstil mehr und mehr und widmet sich dem nicht zu übersehenden russischen Konstruktivismus. Seine Formen tendieren nun zur Geometrie, seine Palette wird sichtlich heller. Inzwischen in Weimar als Bauhauslehrer angekommen, bezeichnet er diese neue Ausrichtung selbst als „kühle Abstraktion“ und veröffentlicht 1925 darüber einen Artikel im Cicerone. Zum Vokabular der „kühlen Abstraktion“ gehören Linienbündel und Schachbrettstrukturen, Kreise sowie Dreiecke, die bisweilen bis zur Pfeilform verjüngt sind. Seine Formen schweben frei im Raum, überkreuzen und durchdringen einander oder gruppieren sich um ein imaginäres Zentrum. So entstehen höchst komplexe Kompositionen einer Vielzahl an Formen und Farbe, entstehen erarbeitete Bezüge und thematisierte Überschneidungen und Farbwechsel. Umrisse sind gebändigt und Farben geklärt. Kandinsky entwickelt eine ihm typische Geometrie in Form von Linien, Dreiecken, Vierecken, Kreisen und Zeichen, verschwommene Ränder werden durch scharfe Konturen ersetzt.

Anstelle symbolischer Farben, die Kandinsky in seiner Veröffentlichung „Über das Geistige in der Kunst" noch fordert, 1912 bei Pieper in München erschienen, treten jetzt geklärte Strukturen, die Kandinsky 1926 in der bei Albert Langen erscheinenden Reihe der Bauhaus-Bücher exemplarisch ausführt: „Punkt und Linie zu Fläche“. Darin die Beschreibung von separaten, objektiven Formelementen, die aufeinander harmonisch und formal abgestimmt sein müssen, nicht mehr die Welt der Natur zu abstrahieren, sondern eine unabhängige plastische Bedeutung zu kreieren. Diese Veränderung vollzieht sich allerdings auf einer vergeistigten, im wesentlichen gegenstandsfreien Ebene, die zwar eine Anschauung von Welt durch formale Analogien vermittelt, und dennoch nicht frei ist von Assoziationen an Gegenständliches - wie hier zu Füßen der hoch emporragenden Konstruktion, einer leuchtturmartigen Landmarke gleich, ein Boot mit Personen gleichsam vorbeischwimmt, ein Bildelement, das in Kandinskys expressiven Bildwelten häufig vorkommt und hier wie ein köstlich konstruiertes Zitat erscheint.
Eine ausgewogene Komposition
„Gebogene Spitzen“ erscheint in seiner ausgewogenen Konstruktion zwischen Bewegung und ruhender Stabilität als mögliches Beispiel seiner pädagogischen Lehre, in dem Kandinsky die Grundlage seiner Malerei erprobt und Verhältnisse zwischen den Formen, Linien und Flächen überprüft, dabei bestimmte Grundfarben bestimmten Grundformen entsprechen und etwa beispielsweise die Farbe Gelb dem Dreieck, die Farbe Rot dem Quadrat und die Farbe Blau dem Kreis zuzuordnen ist. „Die letzte Konsequenz dieses Vorganges ist die volle Beseitigung des gegenständlichen Klanges, wobei die rein malerischen Elemente vollkommen ungetrübt, d. h. klar und rein ihre inneren Wirkungen entwickeln können“ so Kandinsky in seinem Zeitschriftenbeitrag „Abstrakte Kunst“ (in: Der Cicerone, Heft 17, 1925, S. 638-647, hier S. 643). Kandinsky proklamiert also eine strikte Trennung von Kunst und Natur und unterstellt, „solange z. B. in der Malerei die malerischen Elemente auf das Gerüst der Naturformen gehängt werden, bleibt es unmöglich, den Nebenklang zu vermeiden, und also das reine Gesetz der malerischen Konstruktion zu entdecken. […] Die konsequente Handhabung der Grundelemente mit der Prüfung und Anwendung ihrer inneren Kräfte, also im allgemeinen der innere Standpunkt, ist die erste und unumgänglichste Bedingung der abstrakten Kunst" (S. 647). Und nicht zuletzt unterstützt der Künstler hier Bildelemente und Formerfindungen in fest gefügter und gleichzeitig feingliedriger Komposition mit einem kräftig gelben Fond und vertieft mit dieser souverän ausgeprägten Farbigkeit den imaginären Raum, in dem sich die lineare Konstruktion schwerelos schwebend ausdehnt.

Die Provenienz

Die Geschichte der Komposition „Gebogene Spitzen“ ist ungewöhnlich und zugleich aufregend. Aufregend, weil der Verbleib dieses Aquarells seit 1949 im Ungewissen ist und mit dieser Auktion neu entdeckt werden konnte. Doch der Reihe nach: Nach der Schließung des Bauhauses in Berlin durch die Nationalsozialisten im Juli 1933 übersiedelt Kandinsky mit seiner Frau Nina im Dezember nach Paris. Mit im Gepäck ist vermutlich auch dieses Aquarell, wie ein Zollstempel auf der Rückseite nahelegt. Kandinsky gibt das Aquarell bei dem Kunsthändler Rudolf Probst in Komission, wie eine Notiz in der Handliste des Künstlers belegt; nach seinem Tod 1944 verwaltet seine Frau Nina Kandinsky den Nachlass. Nina Kandinsky vermerkt schließlich in der Handliste zum Aquarell "xi 1927, 240, Gebogene Spitzen" "vendu par Probst" (über Probst verkauft). Im Fonds Kandinsky befindet sich darüber hinaus eine Liste der Arbeiten, die Kandinsky im Jahr 1949 bei Probst in Mannheim hatte, und in der "Gebogene Spitzen" von Nina Kandinsky als verkauft ausgestrichen ist. Somit ist davon auszugehen, dass der Verkauf über Probst im Jahr 1949 stattgefunden hat. Danach war der Verbleib des herausragenden Aquarells für mehr als 70 Jahre der Kandinsky-Forschung unbekannt. Im Werkverzeichnis von Vivian Endicott Barnett ist "Gebogene Spitzen" deshalb nur mit der winzigen Erinnerungsskizze aus Kandinskys Handliste und der Standortangabe "Location: Unknown" gelistet. Und so gleicht die überaus erfreuliche Wiederentdeckung des Aquarells "Gebogene Spitzen" im Nachlass einer rheinländischen Privatsammlung einer kleinen kunsthistorischen Sensation. [MvL/JS]



376
Wassily Kandinsky
Gebogene Spitzen, 1927.
Aquarell und Tusche auf Papier, original auf Un...
Schätzung:
€ 250.000
Ergebnis:
€ 1.105.000

(inkl. Käuferaufgeld)