Auktion: 540 / Evening Sale am 09.06.2023 in München Lot 47

 

47
Otto Mueller
Waldinneres mit Blume, Um 1924.
Leimfarbe auf Rupfen
Schätzung:
€ 130.000
Ergebnis:
€ 177.800

(inklusive Aufgeld)
Waldinneres mit Blume. Um 1924.
Leimfarbe auf Rupfen.
Lüttichau/Pirsig G 1924/10. Unten rechts monogrammiert. Verso signiert. Auf dem Keilrahmen signiert und bezeichnet sowie weitere Bezeichnungen von fremder Hand. 100 x 85 cm (39,3 x 33,4 in).
[SM].
• Mit seiner Sehnsucht nach Unverfälschtem erfindet Otto Mueller eine Natur, so wie sie seiner Vorstellung entspricht.
• Ein unantastbarer, paradiesischer Ort.
• Radikal moderne Ästhetik: zoomartige Inszenierung der Natur als freies Spiel von Form und Farbe.
• Ausgestellt 1931 in den wichtigen Gedächtnisausstellungen in Breslau und Berlin ein Jahr nach dem Tod des Künstlers.
• Geschlossene Provenienz
.

PROVENIENZ: Sammlung Dr. Rudolf Ludwig Treuenfels, Breslau/Brooklyn, New York (seit spätestens 1931, verso mit einem Besitzvermerk).
Privatsammlung Brooklyn, New York, USA (1965 im Erbgang vom Vorgenannten, bis 1968).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (seit 1968).

AUSSTELLUNG: Gedächtnisausstellung Otto Mueller 1874-1930, Schlesisches Museum der bildenden Künste, Breslau, Februar/März 1931, Kat.-Nr. 36b.
Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 1995-2001).
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina Wien, 1.6.-2.9.2007, Kat.-Nr. 243.
Brückenschlag: Gerlinger – Buchheim!, Buchheim Museum, Bernried, 28.10.2017-25.2.2018, S. 396.

LITERATUR: Hauswedell, Hamburg, 160. Auktion, 24.-25.6.1968, Los 908.
Heinz Spielmann (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 254, SHG-Nr. 363 (m. Abb.).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 414f., SHG-Nr. 894 (m. Abb.).
Lothar Günther Buchheim, zit. in: Otto Mueller, Leben und Werk, Feldafing 1963, S. 140

Otto Mueller malt eine von der Zivilisation kaum berührte Natur. Sie hat nichts Dramatisches. Sie beschwört Abgeschiedenheit und Ruhe. Um eine Lichtung stehen knorpelige Bäume, gleichsam dicht gedrängt, undurchdringlich und scheinbar unberührt von Menschenhand. Eine geheimnisvolle Blume reckt sich dem Licht entgegen und erweckt in uns jene faszinierende Anziehungskraft, die von seinem Werk ausgeht, unterstützt von der spröden Leimfarbenmalerei, einer Technik, die der Künstler bereits um 1901 für sich entdeckt. Mit seiner Sehnsucht nach Unverfälschtem erfindet Otto Mueller eine Natur, so wie sie seiner Vorstellung entspricht: ein unantastbarer, paradiesischer Ort in einer atmosphärischen Harmonie mit den kräftigen Rotbrauntönen, gemischt mit einem weichen Ocker, einem zarten Grün, bereichert mit Akzenten von maritimem Blau und einem Hauch von gelbem Sonnenlicht: "Die Melodie ist einfach wie ihr Text, ohne dramatischen Aufwand und ohne Kunststücke. Sie ist wie ein Ausatmen, wie ein sich wiegen vor dem Winde. Locker und gleich einem Niederschlag sitzt die Farbe auf, eine nirgends vorglänzende, stumpfe Farbe; klar und weich randen sich die hellen Körper […]; der Pinsel und die Kreide fahren leicht und schwellend durchlüftete Konturen nach, schattenloses Geflecht von schmiegsamen Zügen hin. Nirgends verklebt sich das Strichwerk, speckt die Farbe. Entsprechend durchlässig und ohne Tiefenstoß baut sich das Räumliche. Es ist voll Licht, doch nicht zerstreift davon. Es dehnt sich, ohne die Abgeschlossenheit des stillen Winkels zu durchbrechen. Zum Tiefsinn dieser Bilder gehört, daß sie sacht sind in allem Reliefmäßigen, porös im Graphischen wie in der Fügung und Schichtung", so charakterisiert der Kunstkritiker Willi Wolfradt 1922 Otto Muellers Bilderwelt (zit. nach: Das Kunstblatt, Heft 6, Berlin 1922, S. 142–152).

Eine kontemplative Stille geht von diesem Waldstück aus, ein Stück Landschaft ohne verschwiegene Teiche, eingebettet in Schilf und Buschwerk. Wie seine Akte platziert der Künstler die geschwungenen Stämme, erzeugt mit der Komposition eine ihm entgegenkommende, eher elegische Stimmung voller Geheimnisse. Otto Mueller fühlt sich Zeit seines Lebens einer unverfälschten Natur verbunden, die er auf eine Weise sieht, die seiner Art von Naturverbundenheit weitestgehend entgegenkommt.

Und es sind dies darüber hinaus doch zumeist Ausschnitte von Landschaften, die bis auf wenige Ausnahmen keiner bestimmten Zeit oder keinem Ort verbunden sind. Einzelne Bäume, inszenierte Baumgruppen, hohe Gräser, Schilf und Buschwerk umgeben bisweilen Seen, Teiche und Bäche, wo schließlich zwanglos und unbeobachtet fühlend die 'Badenden' sich tummeln können. Es sind dies arkadische Landschaften ohne wirklichen geografischen Bezug, in denen junge Mädchen, vereinzelt auch Männer wie auf einer Bühne sich nackt unbeschwerter Lebenslust hingeben können, zeitlos gleichsam in ein irdisches Paradies versetzt an unberührten, von Dünen umsäumten Meeresküsten an Ost- oder Nordsee, zwischen Bäumen und Teichen, umgeben von märkischem Sand unweit von Berlin. So entstehen unzählige Varianten zu einem scheinbar unerschöpflichen Thema, welches er 1919 im Vorwort zur ersten Einzelausstellung bei Paul Cassirer in Berlin als Ziel seines Strebens beschreibt, "mit größtmöglicher Einfachheit, Empfindung von Landschaft und Mensch auszudrücken". [MvL]
Provenienz
Bis vor Kurzem galt eine Auktion bei Hauswedell im Jahr 1968 als erste bekannte Provenienz des Bildes. Die frühe Geschichte: unbekannt. Eine nähere Betrachtung der Rückseite des Keilrahmens bringt jedoch nun überraschende Neuigkeiten zutage. Denn hier findet sich ein maschinenbeschriebenes, unscheinbares Etikett, nur teilweise erhalten, mit der fragmentarischen Aufschrift "Dr. Rudolf …". Das kleine Zettelchen ähnelt den bei der bedeutenden Breslauer "Gedächtnisausstellung" Otto Muellers im Jahr 1931 angebrachten Besitzvermerken. Handschriftlich auf der Keilrahmenleiste ist zudem, schwer lesbar, notiert: "Treuenfels". Der Blick in den Breslauer Ausstellungskatalog von 1931 soll sich lohnen und bringt die Bestätigung: Unter der Nummer 36B ist dort ein Gemälde "Waldlandschaft" ausgestellt, und auch der Leihgeber wird genannt: Dr. Rudolf Treuenfels aus Breslau – er ist der erste bekannte Eigentümer des vorliegenden Gemäldes.
Treuenfels, der 1920 an der Universität zu Breslau einen Doktor in Wirtschaftswissenschaften erwirbt und zeitlebens in der Lebensmittelbranche tätig ist, fühlt sich eigentlich zu den Geisteswissenschaften hingezogen. Berufsbegleitend studiert er als junger Mann Geschichte und Philosophie in Hamburg und Königsberg. Wenig später tritt er in verantwortlicher Position in die Firma "Julius Lion" in Breslau ein. Die jüdische Familie Treuenfels hat jedoch unter den nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen zu leiden. Als die Firma "Julius Lion" endgültig "arisiert" wird, flieht Treuenfels nach New York, seine Frau und die beiden Söhne folgen ihm 1939. Die Familie lässt sich in Brooklyn nieder. Hier wird Rudolf Treuenfels 1965 Opfer eines Tötungsdelikts. Das Gemälde von Otto Mueller findet, offenbar direkt aus der Familie Treuenfels kommend, 1968 über den Auktionshandel den Weg in die renommierte Sammlung von Hermann Gerlinger.
[MvL/AT]



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Otto Mueller
Waldinneres mit Blume, Um 1924.
Leimfarbe auf Rupfen
Schätzung:
€ 130.000
Ergebnis:
€ 177.800

(inklusive Aufgeld)