Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 7

 

7
Ernst Ludwig Kirchner
Auf dem Bett sitzendes Mädchen, 1908.
Schwarze Kreidezeichnung
Schätzung:
€ 80.000
Ergebnis:
€ 115.000

(inklusive Aufgeld)
Auf dem Bett sitzendes Mädchen. 1908.
Schwarze Kreidezeichnung.
Links unten signiert und vordatiert "03". Verso betitelt und mit dem Nachlassstempel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Nummerierung "K Dre/Bi 12". Auf Velin. 101,1 x 72 cm (39,8 x 28,3 in), blattgroß.
Verso mit der großformatigen Skizze "Zwei weibliche Akte im Badezuber (Erna und Gerda)", schwarze Kreide, 1913, die Kirchner als Vorzeichnung für den Mittelteil seines Triptychons "Badende Frauen" dient (1915/1925, heute Kirchner Museum, Davos, Privatsammlung und National Gallery of Art, Washington, D.C.). [CH].

• Eine der seltenen großformatigen Zeichnungen im Œuvre E. L. Kirchners.
• Noch nie wurde eine Zeichnung des Künstlers in dieser Größe auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten (Quelle: artprice.com).
• Besonders ausgearbeitete Darstellung von einnehmender, gemäldehafter Wirkung.
• Beidseitig bemaltes Blatt: Auf der Rückseite befindet sich die Vorzeichnung für den Mittelteil des imposanten Triptychons "Badende Frauen" (1915/1925)
.

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ:
Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946, verso mit dem handschriftlich nummerierten Nachlassstempel).
Galerie Nierendorf, Berlin (1963).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, 1996 erworben, Hauswedell und Nolte, 5./6. Juni 1996).

AUSSTELLUNG:
Ernst Ludwig Kirchner, Kunsthalle Bern, 5.3.-17.4.1933, Kat.-Nr. 111 (mit Abb. Taf. XIX).
E. L. Kirchner zum fünfundzwanzigsten Todestag. Aquarelle, Bilder, Zeichnungen, Galerie Nierendorf, Berlin, 18.6.-17.10.1963, Kat.-Nr. 9.
Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, bis 2001).
Frauen in Kunst und Leben der "Brücke", Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloss Gottorf, Schleswig, 10.9.-5.11.2000, Kat.-Nr. 26.
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina, Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 121, S. 200 (m. Abb., S. 201).
Kirchner, Hubertus-Wald-Forum in der Hamburger Kunsthalle, Hamburg, 7.10.2010-16.1.2011, Kat.-Nr. 125 (m. Abb., S. 81, 103 u. 127).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR:
Hauswedell und Nolte, Hamburg, Moderne Kunst, Auktion 318, 5./6. Juni 1996, Los 348.
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, SHG-Nr. 663 u. 756, S. 294 u. S. 336 (jeweils m. Abb.).
Michael Eissenhauer (Hrsg.), In Momenten des größten Rausches. Ernst Ludwig Kirchner - Zeichnungen, Druckgraphik. Der Bestand der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel, Wolfratshausen 2002, S. 27ff. (m. Abb., Nr. 4).
Buchheim Museum (Hrsg.), Brückenschlag: Gerlinger - Buchheim! Museumsführer durch die "Brücke"-Sammlungen von Hermann Gerlinger und Lothar-Günther Buchheim, Feldafing 2017, S. 124 (m. Abb., S. 125).

Kirchners Zeichnungen und Gemälde sind zu verorten, etwa eine Szene wie hier, in seinen Wohnräumen und Ateliers in Dresden, Berlin oder später in Davos mit allen Einrichtungsstücken. So ist es bei den Stillleben, Landschaften und den Straßenbildern. Und zumeist sind auch die agierenden Personen zu benennen, oder Erlebnisse nachzuerleben, die etwa auf den Straßen, in den Varietés von Berlin unmittelbar stattfinden und im Atelier mit Hilfe von Modellen, seinen Freunden und Mitbewohnern ihre großartige Ausführung erhalten. Eine tatsächliche Situation aus dem eigenen Leben wird emphatisch wiedergegeben. Kirchners Arbeiten auf Papier zeigen Ungeduld, sie wirken zerrissen, aber gleichzeitig verbindet eine Linie, ein Bogen wieder das Motiv. Kirchners Arbeiten auf Papier sind eruptiv – eine Eruption des Ausdrucks, und sie sind erotisch. Sie zeigen Verletztheit, und sie zeigen Trauer, sie zeigen sich sensibel, verkörpern viel Zuneigung. Die Arbeiten auf Papier spiegeln Kirchners Leben und die Orte seines exzessiven Lebens.

Einer dieser Orte oder besser eine Bühne für Kirchners Arbeiten ist sein erstes bescheidenes Atelier in Dresden: "Wir lebten damals in der Berliner Strasse im Topflappenviertel von Dresden. Heckel wohnte /134/bei seinen Eltern, ich in einem Laden, den Heckel und Schmidt-Rottluff ursprünglich für Brückekisten als Lager gemietet hatten und den ich später als […] Wohn-, Schlaf- und Arbeitsstätte mietete, da ich kein Geld mehr erhielt von den Eltern und furchtbar Mangel leiden musste, denn ich war ungeschickt in der Art, meine Dinge anzubringen, wie selten einer, und ich kannte keine Künstler als unsere Brückeleute und arme Menschen", so Kirchner sich Jahre später in seinem Tagebuch erinnernd. (Kirchner, Davoser Tagebuch, hrsg. von Lothar Grisebach, Ostfildern 1997, S. 64). Sein Atelier, ein Ladenlokal in der Berliner Straße 60, dekoriert er mit gebatikten Vorhängen und Paravents mit Darstellungen "barbarischer" Liebespaare, baut sich Möbel, schnitzt Geschirr und Accessoires. Sie bilden immer wieder dekorativen Hintergrund für Atelierszenen. Nach ersten freundschaftlichen Episoden mit den Modell-Freundinnen Line, Isabella, einer unglücklichen Liaison mit Emmy Leonie Frisch, gen. Emy wird die Modistin Dodo (Dorothe Grosse) Kirchner nicht nur als Modell, sondern auch als Lebensgefährtin in den Dresdener Tagen begleiten. Darstellungen von ihr mit zumeist ausladenden Hüten finden sich in ersten Skizzenbüchern und großformatigen Zeichnungen wie auch hier auf diesem außerordentlich großen Blatt Papier (100 cm x 70 cm). Kirchners Strich in dieser Zeichnung ist bewegt, geradezu aufgeregt. Mit kurzen, nahezu klar abgegrenzten breiten Konturen lässt er das Bett als Kulisse erscheinen, auf dem das Modell halb sitzend, halb liegend Platz nimmt. Dodo scheint gerade eingetreten zu sein in Kirchners Atelier, als sich dieser mit Papier und schwarzer Kreide auf sie stürzt, um sie im langen Kleid, noch in Mantel und ausladendem Hut, mit schnellen Strichen und wenigen, Atmosphäre stiftenden Flächen festzuhalten. Eine spontane Situation, wie Kirchner sie stets versucht zu provozieren. Alles Statische, alles Akademische ist ihm zuwider. [MvL]



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Ernst Ludwig Kirchner
Auf dem Bett sitzendes Mädchen, 1908.
Schwarze Kreidezeichnung
Schätzung:
€ 80.000
Ergebnis:
€ 115.000

(inklusive Aufgeld)