Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 36

 

36
Ernst Ludwig Kirchner
Erna und Gerda im Atelier, 1912.
Bleistiftzeichnung
Schätzung:
€ 15.000
Ergebnis:
€ 37.500

(inklusive Aufgeld)
Erna und Gerda im Atelier. 1912.
Bleistiftzeichnung.
Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Registriernummer "B Be/Bi 27". Auf glattem chamoisfarbenem Velin. 33,4 x 27,1 cm (13,1 x 10,6 in), nahezu blattgroß.
Verso die Bleistiftzeichnung "Sitzender Akt mit zwei Figuren", 1911. [CH].

• Bedeutende Zeichnung, in der alle drei Musen Kirchners "vereint" sind: Erna und Gerda einander zugewandt und Dodo im Gemälde "Stehender Akt mit Hut" im Hintergrund.
• Besonders detailliert ausgearbeitete Skizze mit raffiniertem Bildausschnitt.
• Im Entstehungsjahr lernt Kirchner die Schwestern Erna und Gerda Schilling kennen, die in den darauffolgenden Jahren zu den beliebtesten Modellen des Künstlers gehören.
• Beidseitig bemaltes Blatt: Verso mit der Studie eines sitzenden Aktes und zwei schemenhaften Figuren
.

Das vorliegende Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ:
Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, Stuttgart (1954).
Privatsammlung.
Kunsthandel München (1998 vom Vorgenannten erworben, Ketterer Kunst, 25.5.1998).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032).

AUSSTELLUNG:
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina, Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 153, S. 240f. (m. Abb.).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR:
Ketterer Kunst, München, 220. Auktion, Moderne Kunst I, 25.5.1998, Los 9 (m. ganzs. Abb.).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 310 u. 325, SHG-Nr. 705 u. 736 (m. Abb.).
Brückenschlag: Gerlinger - Buchheim! Museumsführer durch die "Brücke"-Sammlungen von Hermann Gerlinger und Lothar-Günther Buchheim, Feldafing 2017, S. 152 (m. Abb., S. 153).

Im Oktober 1911 übersiedelt Ernst Ludwig Kirchner nach Berlin und folgt damit den "Brücke"-Künstlern Heckel und Schmidt-Rottluff in die Metropole. Kirchner zieht in die Durlacher Straße 14 im Stadtteil Wilmersdorf in dasselbe Haus, in dem Max Pechstein bereits seit längerem wohnt. Den ersten Berliner Zeichnungen, Gemälden und druckgrafischen Werken ist ein Motivwandel zu entnehmen: Kirchner geht in der Stadt scheinbar rastlos spazieren und beschäftigt sich mit den Themen, die dieser Ort reichlich zu bieten hat: Theater, Bars, Cafés, Tanz, Bordelle, Kokotten auf der Straße. Wohl erst im Mai 1912 begegnet Kirchner der um vier Jahre jüngeren Erna Schilling. Sie tritt, wie auch ihre Schwester Gerda, in einem Nachtlokal als Tänzerin auf. An Erich Heckel berichtet Kirchner, wie der Kontakt zustande kommt. "Wir wollten nach Fehmarn zusammen und suchten nach noch einem Mädchen, das wir ausser der Sidi [Heckels Freundin] mitnehmen wollten. Ich fand eine kleine Tänzerin, die im selben Lokal wie Sidi auftrat." (Kirchner in: Davoser Tagebuch, hrsg. von Lothar Grisebach, Ostfildern 1997, S. 97) Und Erna hat eine ältere Schwester, Gerda, die ebenfalls als Tänzerin ihr Leben finanziert. Kirchner fühlt sich von beiden angezogen, eine Beziehung aber entsteht mit der achtundzwanzigjährigen Erna, die Bestand haben sollte bis zu seinem Tod 1938 im Davoser Frauenkirch. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg werden die zwei Schwestern die Motive Kirchners vielfach beleben, sie sind seine Modelle in den verschiedensten Rollen und beleben die Szenen, die der Künstler zeichnet, malt oder als Motiv in druckgrafischen Werken verewigt. So zeichnet Kirchner, sich herantastend, die beiden Schwestern eng beieinander auf einem Bett sitzend in seinem Atelier. Das Raffinierte an dieser Zeichnung ist vielleicht die auffallende Anschauung der Gesichter der beiden Schwestern, die Kirchner zu einem zu vereinen scheint, indem er sie mit den Lippen berühren lässt, einen gemeinsamen Nasenrücken formt und nur jeweils das rechte, beziehungsweise linke Auge herausstellt. Was hier wie eine Maske geformt erscheint, steht als Symbol für eine enge geschwisterliche Beziehung. Dies wird auch in den weiteren Bühnen, in denen die beiden eine Rolle spielen, erkennbar sein. Allerdings, wer ist Erna und wer Gerda? Dies bleibt hier noch weitgehend ein Geheimnis. Später dann wird Gerda zumeist an einer besonderen Frisur zu erkennen sein, an den über den Ohren aufgerollten Schnecken. Und sie besitzt im Gegensatz zu Erna auch einen üppigeren, sinnlich weichen Mund, wie man an dem ein Jahr später entstehenden Gemälde "Zwei Frauen am Waschbecken" deutlich erkennen kann. (Abb.) Im Hintergrund angedeutet ist die untere Hälfte des großformatigen Gemäldes "Akt mit Hut", das Kirchners damalige Geliebte Dodo (Doris Grosse) vor üppigen Textilien im Dresdener Atelier zeigt. Aber zurück zu den neu in Kirchners Leben vehement eindringenden Modellen Erna und Gerda, über die Kirchner sinniert: "Die schönen architektonisch aufgebauten strengförmigen Körper dieser beiden Mädchen lösten die weichen sächsischen Körper ab. In tausenden von Zeichnungen, Graphiken und Bildern formten diese Körper mein Schönheitsempfinden zur Gestaltung der körperlich schönen Frau unserer Zeit." (Kirchner, zit. nach: Lucius Grisebach, Ernst Ludwig Kirchner, Köln 1995, S. 86) [MvL]



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Ernst Ludwig Kirchner
Erna und Gerda im Atelier, 1912.
Bleistiftzeichnung
Schätzung:
€ 15.000
Ergebnis:
€ 37.500

(inklusive Aufgeld)