Auktion: 533 / Modern Art Day Sale und Sammlung Hermann Gerlinger am 10.12.2022 in München Lot 482

 

482
Hermann Max Pechstein
Das gelbe Tuch, 1909.
Tuschfeder und farbige Kreiden
Schätzung:
€ 15.000
Ergebnis:
€ 22.500

(inklusive Aufgeld)
Das gelbe Tuch. 1909.
Tuschfeder und farbige Kreiden.
Rechts unten monogrammiert. Auf chamoisfarbenem Velin. 15,1 x 19,1 cm (5,9 x 7,5 in), blattgroß.
Vorbereitende Zeichnung zu Pechsteins noch im selben Jahr entstandenen, gleichnamigen, heute verschollenen Gemälde (siehe Aya Soika, Max Pechstein. Das Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. 1 (1905-1918), München 2011, Kat.-Nr. 1909/47). [CH].
• Das gleichnamige, noch im selben Jahr entstandene Gemälde gilt heute als verschollen (Soika 1909/47).
• In dieser vorbereitenden Zeichnung legt Pechstein bereits die Gesamtkomposition sowie Haltung und Farbigkeit der Figuren fest.
• Im Entstehungsjahr gelingt Pechstein mit seiner Beteiligung an der Frühjahrsausstellung der Berliner Secession der künstlerische Durchbruch.
• Farbige Zeichnungen in dieser Qualität sind auf dem internationalen Auktionsmarkt von allergrößter Seltenheit
.

PROVENIENZ: Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, seit 1971: Tenner).

AUSSTELLUNG: Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 1995-2001).
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Die Brücke in Dresden 1905-1911, Dresdner Schloss, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 20.10.2001-6.1.2002, Kat.-Nr. 185 (m. Abb., S. 175).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina, Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 213, S. 322f. (m. Abb.).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).
Brückenschlag: Gerlinger – Buchheim!, Buchheim Museum, Bernried, 28.10.2017-25.2.2018, S. 168f. (m. Abb.).

LITERATUR: Antiquariat Dr. Helmut Tenner, Heidelberg, 83. Auktion, Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen, Graphik des 15. bis 20. Jahrhunderts, 20.2.1971, Los 739 (m. d. Titel "Weibliche Akte am Strand", m. Abb.).
Heinz Spielmann (Hrsg.), Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 241f., SHG-Nr. 344 (m. Abb.).
Beate Thurow (Hrsg.), Ausst.-Kat. Max Pechstein. Das ferne Paradies (Gemälde, Zeichnungen, Druckgraphik), Städtisches Kunstmuseum Spendhaus, Reutlingen, Ostfildern-Ruit 1995, S. 15 (m. Abb.).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle 2005, S. 386, SHG-Nr. 850 (m. Abb.).
Brückenschlag: Gerlinger - Buchheim!, Museumsführer durch die "Brücke"-Sammlungen von Hermann Gerlinger und Lothar-Günther Buchheim, Bernried 2017, S. 168f. (m. Abb., S. 169).

1908 verbringt der Künstler zunächst drei Monate in Italien, bevor er sich im Dezember für einen neunmonatigen Aufenthalt nach Paris begibt. Hier sieht er die Kunst der "Fauves", u. a. die Arbeiten von Henri Matisse, sowie Werke von Paul Cézanne, die ihn nachhaltig beeindrucken. Kurz darauf zieht er als erster "Brücke"-Künstler von Dresden nach Berlin, wo er seine spätere Ehefrau Charlotte "Lotte" Kaprolat kennenlernt, die ihm in den kommenden Jahren häufig Modell stehen wird. Lotte ist auch das Modell, wie der Künstler später in seinen "Erinnerungen" bestätigt, für das 1909 entstandene und heute verschollene Gemälde "Das gelbe Tuch" (Soika, 1909/47). Die hier angebotene Darstellung und insbesondere die linke Figurengruppe diente ohne Zweifel als vorbereitende Zeichnung. Das Gemälde war eines der Hauptwerke der damaligen Schaffensperiode Pechsteins. In seinen "Erinnerungen" schreibt er rückblickend: "'Das Gelbe Tuch', die 'Gelben Tulpen' und die Landschaft wurden für die Sezession angenommen. Als erster unter meinen 'Brücke'-Kameraden hatte ich dieses Ziel erreicht." (Pechstein, in: Leopold Reidemeister (Hrsg.), Erinnerungen. Max Pechstein, München 1963, S. 33).

Gleichzeitig weist unsere farbstarke Zeichnung große Ähnlichkeiten zu den Gemälden "Nach dem Bade" (Soika 1909/46, verschollen) und "Zwei Mädchen" (Soika 1909/48, Germanisches Nationalmuseum, Nürnberg) auf, denn sie greift in gleichen Teilen sowohl die Pose des ihre Arme über dem Kopf verschränkenden weiblichen Halbakts im Nürnberger Gemälde als auch den Bildaufbau der am Wasser verweilenden, liegenden und stehenden weiblichen Akte aus "Nach dem Bade" auf. In diesem Punkt erinnert sie in gewisser Weise auch an Cézannes "Les Grandes Baigneuses" (1906, Philadelphia Museum of Art), doch der "Brücke"-Künstler nähert sich seinem schon damals gesetzten künstlerischen Ziel, "Mensch und Natur in eins zu erfassen", in mutiger, eindeutig expressionistischer Manier (ebd., S. 50). Schon die Zeichnung mit ihren leuchtenden Farben, einem kräftigen Gelb, frischen Grün und ungewöhnlichen Violett, weist ihn als selbstbewussten Künstler aus, der die althergebrachte akademische Farbenlehre bereits mit großen Schritten hinter sich gelassen hat. Anlässlich der zweiten kollektiven "Brücke"-Ausstellung in Dresden wird 1909 wohl über das bereits erwähnte, motivisch eng verwandte Gemälde "Nach dem Bade" berichtet: "Pechstein ist mit einem großen Publikumsschrecken vertreten [..]. Er ist noch kräftiger, zugreifender als Kirchner, vor allem in der Farbigkeit." (Paul Fechter, 6.9., zit. nach Soika, Bd. 1, S. 201). Über das von unserer Zeichnung vorbereitete Gemälde "Das gelbe Tuch" schreibt der Kunsthistoriker Max Osborn einige Jahre später rückblickend: "An das 'Gelbe Tuch' aber traute man sich noch nicht heran. Die wilde Fleischlichkeit der beiden stehenden Frauen, fabelhaft modelliert, von energischen Konturen umrissen, schien das Äußerste an sinnlicher Ungeniertheit [..] zu wagen" (1922, zit. nach: Soika, Bd. 1, S. 202).

Motivisch wird sich Pechstein Zeit seines Lebens sehr intensiv mit dem weiblichen Akt in der Landschaft und der Verbindung von Mensch und Natur auseinandersetzen. Noch im Entstehungsjahr unserer Zeichnung folgt im August der erste gemeinsame Aufenthalt mit Kirchner und Heckel an den Moritzburger Teichen. Den Frühsommer verbringt Pechstein zudem erstmals in Nidden an der Ostsee, wohin er auch in den darauffolgenden Jahren immer wieder zurückkehren wird. Fernab der Großstadt findet er nicht nur einen ersehnten Rückzugsort, sondern auch die Möglichkeit des intensiven Naturerlebens, das er sowohl im Privaten als auch in seiner Kunst stets gesucht und idealisiert hatte. [CH]



482
Hermann Max Pechstein
Das gelbe Tuch, 1909.
Tuschfeder und farbige Kreiden
Schätzung:
€ 15.000
Ergebnis:
€ 22.500

(inklusive Aufgeld)