Lexikon
Kubistische u. orphistische Abstraktion

Streng genommen geht die orphistische aus der kubistischen Abstraktion hervor. Die notwendige Vorarbeit hatte der Kubismus mit dem Prinzip der Formzerlegung geliefert. Auf dieser Grundlage entwickelte der französische Künstler Robert Delaunay (1885-1941) eine Kunstauffassung, die von ihm mit dem in seinen theoretischen Reflektionen häufig vorkommenden Schlagwort der "Simultaneität" umschrieben wird. Der Weg dorthin wurde beschritten, indem Robert Delaunay die kubistischen Grundsätze auf der koloristischen Ebene mit der postimpressionistischen Farbenlehre verschmolz und der Farbe als Ausdrucksträger immer größere Wertschätzung entgegenbrachte. Resultat waren zunehmend abstrakte, rhythmisch durchkomponierte, häufig von einer Kreisbewegung dominierte Kompositionen. Der Begriff "Orphismus" schließlich geht auf den Dichter Guillaume Apollinaire zurück, der die Macht des mythischen Sängers Orpheus auf die Kraft der Farben und damit sinnfällig auf die Kunst Robert Delaunays übertrug und diese als "orphistischen Kubismus" bezeichnete.
Farbe und Lichtwirkung hatten für Robert Delaunay eine ganz besondere Relevanz, bezeichnete er die reine Malerei doch als eine Universalsprache, in der die Farbe um ihrer selbst Willen vorkommt.
Die Entwicklung hin zu dieser orphistischen Abstraktion vollzieht sich bei Robert Delaunay allmählich in den Jahren 1909/10 bis 1912/13: Verzichtete er beispielsweise in der berühmten Eiffelturm-Serie (ab 1909) zunächst noch nicht gänzlich auf das gegenständliche Abbild, so reduzierte er dieses bereits 1912 in den "Fenêtres simultanées" deutlich, bevor er sich mit der sogenannten "Simultanscheibe" - von Delaunay selbst zunächst als Testbild konzipiert - und der Darstellung kreisrunder bunter Formen 1912/13 vollkommen zur Abstraktion hinwandte. Bestimmendes Prinzip dieser Bilder ist der Rückgriff auf Komplementär- und Simultankontraste, die dem Betrachter suggerieren, er sehe bewegte Farbakkorde.
Neben Robert Delaunay ist dessen Frau Sonia Delaunay-Terk (1885-1979) eine wichtige Vertreterin der orphistischen abstrakten Kunst, daneben sind Anklänge der orphistischen Abstraktion bei František Kupka, Francis Picabia, Jacques Villon und außerdem in einigen späten Werken August Mackes zu finden.