Auktion: 369 / Kunst nach 45/ Zeitgenössische Kunst am 12.06.2010 in München Lot 301

 
Martin Kippenberger - Vorfreude seitenverkehrt: ich muß zuhause bleiben


301
Martin Kippenberger
Vorfreude seitenverkehrt: ich muß zuhause bleiben, 1986.
Collage
Schätzung:
€ 24.000
Ergebnis:
€ 24.400

(inkl. Käuferaufgeld)

Collage. Frotteetuch, Stoff, Pappe und Hemdsärmel mit Serigrafie, auf Keilrahmen
Verso signiert und datiert. 76,5 x 91 cm (30,1 x 35,8 in)

PROVENIENZ: Sammlung Hermann Kasack, Frankfurt/Main.

Nach einer nicht sehr erfolgreichen Schullaufbahn und einer abgebrochenen Dekorateurlehre beginnt Kippenberger 1972 ein Studium der Freien Malerei an der Hamburger Kunstakademie. Ein erstes künstlerisches Großprojekt schafft er 1976 während eines einjährigen Florenzaufenthalts, zu dem 1977 auch ein Katalog erscheint. 1978 übersiedelt Kippenberger nach Berlin, wo er zusammen mit Gisela Capitain "Kippenbergers Büro" gründet und die Geschäftsführung des Clubs SO 36 übernimmt. Er organisiert Ausstellungen und Konzerte, erwirbt erste Arbeiten von Künstlerkollegen und lernt seinen späteren Galeristen Max Hetzler kennen. Neben der eigenen Kunstproduktion entstehen in den 1980er Jahren auch Gemeinschaftsarbeiten mit Albert Oehlen, Werner Büttner und Georg Herold. Martin Kippenberger zählt zu den vielseitigsten und produktivsten deutschen Künstlern der Nachkriegszeit. Mit überschäumender Energie erarbeitet er seit den 1970er Jahren bis zu seinem frühen Tod ein sehr umfangreiches Œuvre, das von Malerei, Grafik und Plastik über Installation und Happening bis hin zu Ausstellungsorganisation und Buchpublikation nahezu alle Möglichkeiten des Kunstschaffens ausschöpft. Mit seinen Arbeiten hinterfragt Kippenberger die Gesellschaft und den zeitgenössischen Kunstbetrieb. In provozierend banalen oder spöttischen Bildfindungen, die bewusst auch Peinlichkeiten akzeptieren, in Nonsenstexten und mit kalkuliertem Dilettantismus stellt er unsere traditionelle Vorstellung von Kunst und Künstler in Frage.

Am 15 Dezember 1985 startet Martin Kippenberger seine "Magical Misery Tour" durch Brasilien, wo der Künstler eine stillgelegte Tankstelle in Salvador de Bahia direkt am Meer erwirbt und in "Tankstelle Martin Bormann" umbenennt. Die Erinnerung an Martin Bormann und das sich bis in die 1970er Jahre haltende Gerücht, dass der im Zuge der Nürnberger Prozesse in Abwesenheit zum Tode verurteilte Erfüllungsgehilfe Hitlers sich in Südamerika versteckt halten würde, ist bis in die 1980er Jahre sehr präsent. Auf diese im kollektiven Gedächtnis Deutschlands verankerte historische Begebenheit aufbauend, schafft Kippenberger dem prominenten Flüchtling des Hitlerregimes mit seiner Tankstelle eine fiktive Tarnadresse. Nach Kippenbergers Rückkehr entstehen neben der bekannten Installation mit dem Titel "Tankstelle Martin Bormann" auch großformatige Fotoarbeiten und Gemälde mit brasilianischen Motiven und Textzeilen, wie etwa die Bildserie "Grota de Ipanema" und auch unsere, um ein Frotteehandtuch mit Copacabana-Motiv komponierte, und gewecktes Fernweh ironisch kommentierende Arbeit. Durch die gewählten Materialien und das Zurückdrängen jeglicher künstlerischen Handschrift gelingt es Kippenberger in der vorliegnden Arbeit, zugleich unserer konventionellen Vorstellung von Kunst und Künstler eine heitere Absage zu erteilen. Weite Teile dieser, an den Basilienaufenthalt des Künstlers anschließenden Schaffensphase werden 1986 in Kippenbergers erster umfassender Museumsausstellung "Miete Strom Gas" im Landesmuseum Darmstadt der Öffentlichkeit präsentiert.

1990 tritt Kippenberger eine Gastprofessur an der Städelschule Frankfurt an und unterrichtet 1992 an der Gesamthochschule Kassel. Ein großes Projekt, das ihn neben unzähligen anderen bis zu seinem frühen Tod beschäftigt, ist die Realisierung eines weltumfassenden U-Bahnnetzes, für das er 1993 einen Eingang in Syros (Griechenland), 1995 in Dawson City (Kanada) und 1997 einen dritten auf der Leipziger Messe errichtet, die im gleichen Jahr posthum nach seinen Konzepten durch einen Lüftungsschacht in Münster und einen portablen Eingang auf der dokumenta X in Kassel ergänzt werden. [JS].




301
Martin Kippenberger
Vorfreude seitenverkehrt: ich muß zuhause bleiben, 1986.
Collage
Schätzung:
€ 24.000
Ergebnis:
€ 24.400

(inkl. Käuferaufgeld)