Auktion: 500 / Evening Sale am 17.07.2020 in München Lot 207

 

207
Ernst Ludwig Kirchner
Der Verkauf des Schattens, 1915.
Farbholzschnitt
Schätzung:
€ 80.000
Ergebnis:
€ 250.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Der Verkauf des Schattens. 1915.
Farbholzschnitt.
Gercken 774 2 ( von 2). Signiert, bezeichnet "Eigendruck". Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Registriernummer "H 265 II". Eines von 8 farbigen Exemplaren. Auf Silk Blotting von Huber Frères, Winterthur (mit Wasserzeichen). 32,1 x 21,7 cm (12,6 x 8,5 in). Papier: 57,2 x 41,6 cm (22.5 x 16.3 in).
Blatt 1 der insgesamt 6 Blätter zuzüglich Umschlagzeichnung und Titelblatt umfassenden Mappe "Bilder zu Peter Schlemihls wundersamer Geschichte von Albert von Chamisso" (1915).
Weitere Exemplare befinden sich in folgenden Museen: Kunstmuseum Basel; Brücke-Museum, Berlin; Museum Folkwang, Essen; Städel Museum, Frankfurt, sowie in der National Gallery of Art, Washington.
Gercken spricht von Schwarz, Violett und Rot; unser Blatt trägt zusätzlich im Vordergrund rechts unten und im Hintergrund oben Grün als dritten Farbton. [EH].

• Unikat.
• Hauptwerk des expressionistischen Farbholzschnitts
• Eines von zwei bekannten Exemplaren mit Grün als dritter Farbe neben Rot und Violett.
• Handabzug mit von Hand gesetzten Farbnuancen.
• Aus der gesuchtesten Schaffenszeit des Künstlers.
• Seit über 55 Jahren erstmals auf dem Auktionsmarkt.
.

Wir danken Herrn Prof. Dr. Günther Gercken für die freundliche, wissenschaftliche Beratung.

PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers.
Galerie R. N. Ketterer, Campione d’Italia (bis 1965).
Privatsammlung Deutschland (1965 vom Vorgenannten erworben, seither in Familienbesitz).

AUSSTELLUNG: Meisterwerke des deutschen Expressionismus, Kunsthalle Bremen; Kunstverein Hannover; Wallraf-Richartz-Museum, Köln; Stedeljik-Museum, Den Haag, 1960, und Kunsthaus Zürich, 1961.
Galerie R. N. Ketterer, Campione d’Italia, Katalog "E. L. Kirchner Brücke", 1964, Kat.-Nr. 93 m. sw-Abb.

In Albert von Chamissos (1781–1838) Erzählung „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ (1813) verkauft die zentrale Figur Peter Schlemihl seinen eigenen Schatten an den Teufel. Als er gewahr wird, dass er sich damit aus der Gesellschaft ausschließt, da die Menschen ihn aufgrund dieser Absonderlichkeit keinen Schatten mehr zu haben, meiden, versucht Schlemihl vergebens, den Handel rückgängig zu machen. Kirchner ist fasziniert von dieser Geschichte, weil er sich selbst in der Titelfigur wiedererkennt, da er sich durch seine freiwillige Meldung zum Kriegsdienst von seinen Mitmenschen isoliert fühlt. Der Schlüssel für die Interpretation dieses und der anderen Blätter ist also in der Identifikation Kirchners mit der Hauptfigur zu suchen. Dieses Gefühl des eigenen, sicher sehr tiefgreifenden Identitätsverlusts verdeutlicht ein Brief, den Kirchner am 28. Juli 1919 rückblickend von seinem Sommerdomizil auf der Stafelalp an seinen Förderer und Sammler Gustav Schiefler in Hamburg richtet und bei dieser Gelegenheit ‚seinen’ Blick auf die Erzählung preisgibt: „Die Geschichte des Schlemihl ist, wenn man sie von aller romantischen Brämung entkleidet, eigentlich die Lebensgeschichte des Verfolgungswahnsinnigen. D. h. des Menschen, der durch irgendein Ereignis mit einem Ruck sich seiner unendlichen Kleinheit bewusst wird, zugleich aber die Mittel erkennt, wodurch die Welt im allgemeinen sich über diese Erkenntnis hinwegtäuscht. Im Blatt 1 ergreift er in der in ihm durch den Reichtum um ihn herum geweckten Sehnsucht die ihm dargebotene Gelegenheit, obwohl er weiß, daß er dadurch, wenn man so sagen soll, seine innerste Eigenart verkauft und damit sein seelisches Gleichgewicht verliert. Symbolisch ist es ausgedrückt durch das Verkaufen des Schattens. Blatt 2 ist das reizvolle Mädchen, in das er sich verliebt. Blatt 3 stellt die Kämpfe dar, die diese Liebe ihm und ihr bringen. Blatt 4 ist die fieberhafte Zergliederung seiner selbst in dem Moment, als er nach der Verfolgung durch die Straßenbuben wieder allein im Zimmer ist. Blatt 5 zeigt die Szene, in der er mit dem grauen Männlein auf der Landstraße von diesem für die Zeit ihres Zusammenseins den Schatten geliehen bekommt und damit in ein Seitental entfliehen will. Der Schatten rutscht in diesem Moment von selbst in die Tasche des Männleins zurück. Die militärische Uniform stammt daher, dass ich mich während dieser Zeit in einem ähnlichen psychischen Zustand befunden habe. Der Verkauf an das graue Männlein war das Freiwilligentum, da ich daran selbst schuld war. Auf Blatt 6 sitzt Schlemihl trauernd zwischen den Feldern, als plötzlich über das sonnenbeschienene Land sein Schatten ankommt. Er bemüht sich mit seinen Füßen in die Fußstapfen des Schattens zu treten in dem Wahn, dadurch wieder er selbst zu werden. Analog zu dem Seelenvorgang eines Militär entlassenen. Blatt 7 fehlt, es sollte die Lösung vorstellen, die Aussöhnung mit dem seelischen Manko wie Schlemihl mit den Siebenmeilenstiefeln um die Welt läuft in Chamisso. Ich konnte die Gestaltung dieses Blattes bisher noch nicht finden.“ (E. L. Kirchner an Gustav Schiefler am 28. Juli 1919, zit. nach Briefwechsel 1910 – 1935/1938, bearbeitet von Wolfgang Henze, Zürich 1990, S. 136)

Schlemihl verkauft seinen Schatten
Das erste Blatt erzählt den „Der Verkauf des Schattens“ Peter Schlemihls an einen eigenartigen grauen Herrn, dem er nach einer anstrengenden Seereise im Garten des reichen Kaufmanns Thomas John begegnet. Dieser bietet ihm im Tausch gegen seinen Schatten einen Säckel voller Gold, der nie versiegt. Schlemihl willigt in den Handel ein. Kirchner interpretiert die Geschichte ganz auf seine Weise: er verlegt die Begegnung Schlemihls mit dem sonderbaren Herren in eine Berliner Straßenszene bei Regen. Aufrecht, den linken Rand des Blattes einnehmend, steht seriös und weltgewandt der Teufel, den Hut zur Begrüßung gezogen, leicht herabblickend auf Peter Schlemihl alias Kirchner in „seiner unendlichen Kleinheit“ vor ihm in gebeugter Geste, den Hut in der linken Hand haltend, zu seinen Füßen Andeutung von Pflanzungen des Gartens, etwas misstrauisch wie fragend in sich hinein blickend. Hinter ihm flanieren Passanten mit aufgespanntem Regenschirm. Mit dem virtuos vorgetragenen Wechsel zwischen Schwarz und Weiß dynamisiert Kirchner die Szene, stellt das intime Gespräch in den Vordergrund und hinterfängt die Szene unter dem Licht der Straßenlaternen.

Kirchner druckt die Schlemihl-Folge
Mit der Intensität dieser Farbholzschnitte der Schlemihl-Folge zeigt Kirchner sein großartiges Können und schafft einen wahren Höhepunkt seiner differenzierten Gestaltungsmöglichkeiten, nicht nur die Erzählung feinfühlig und durchaus nah am Text der Vorlage auf den Druckstock zu übertragen, sondern mit dem Einsatz von Farbe – in der Regel mit zwei bis drei extra gefertigten Druckstöcken –, den Zeichnungsstock für die schwarze Zeichnung mit farbigen Flächen zu überdrucken und zu akzentuieren. Kirchner führt den Druck selbst durch und kann somit unterschiedliche Farbnuancen bisweilen auch Farbakzente von Hand setzen. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, wenn die erhaltenen Exemplare der in sehr kleiner Auflage gedruckten Farbholzschnitte auch ein sehr unterschiedliches Aussehen mit sich bringen. Zudem mag es der zutiefst selbstreflexiven Natur des Werkes geschuldet sein, dass Kirchner nur unerheblich mehr als die sechs kompletten Folgen des ‚Zyklus‘ druckt und diese ausschließlich an enge Freunde verteilt: so an den Archäologen und Kunsthistoriker Botho Graef, an den Richter, Kunstsammler und Mäzen Gustav Schiefler, an den Schokoladenfabrikanten und Sammler Bernhard Sprengel, an den Direktor des Museum Folkwang, Ernst Gosebruch, an den Chefarzt des Davoser Parksanatoriums Frédéric Bauer und an den Gründer des Museum Folkwang und Sammler Karl Ernst Osthaus in Hagen.Nach Günther Gercken, Bearbeiter der Druckgraphik Kirchners, sind diese Mappen inzwischen in öffentlichem Besitz nachzuweisen: in Basel (Kunstmuseum), Berlin (Brücke-Museum), Essen (Museum Folkwang), Frankfurt (Städel Museum) und Washington (National Museum of Art). Ein Exemplar befindet sich als Geschenk mit Widmung an Karl Ernst Osthaus zunächst in Hagen, nach dessen Tod 1921 im Museum Folkwang und daselbst 1937 beschlagnahmt in den Jahren 1939/40 an verschiedene Händler verkauft respektive getauscht, und es hat sich im Nachlass des Künstlers das eine oder andere Exemplar erhalten. (Günther Gercken, Ernst Ludwig Kirchner, Kritisches Werkverzeichnis der Druckgraphik, Band III, 1912-1916, Bern 2015, Nr. 773, S. 260)

Die Provenienz

Die Provenienz dieses Holzschnitts – "Der Verkauf des Schatten"– lässt sich zurückverfolgen auf Roman Norbert Ketterer und der ersten Erwähnung im Jahr 1963. Das Blatt stammt aus dem Nachlass und wird von dem jetzigen Besitzer da selbst erworben. Dieses 1. Blatt der Serie mit der Darstellung „Der Verkauf des Schattens“ weist eine augenfällige Besonderheit auf. Kirchner druckt diese Szene mit einer vierten Farbe: neben dem Schwarz, dem Rot der Regenschirme und dem Violett, das dem „Schatten“ Peter Schlemihls vorbehalten ist, setzt Kirchner am rechten Rand zusätzlich die Farbe Grün ein, um den Garten als Ort des Geschehens zu markieren. Nimmt man die großartige Publikation zu der Ausstellung „Ernst Ludwig Kirchner. Peter Schlemihls wundersame Geschichte“ von 2014 im Brücke-Museum Berlin zur Hand, wo es den Herausgebern Magdalena M. Moeller und Günther Gercken gelingt, alle kompletten Mappen erstmals mit allen Unterschieden im Druck zu zeigen, erfährt der vorliegende Druck eine weitere Besonderheit: keines der oben genannten 6 Mappenwerke mit der illustrierten Schlüsselszene von Schlehmils „Verkauf seines Schattens“ enthält die Farbe Grün! Somit lässt sich vermuten, dass Kirchner diese im Park des Herrn Thomas John in Hamburg stattfindende Szene einmal zusätzlich mit Grün ebenso akzentuiert, wie er auch die beiden weiteren im Freien spielenden Begegnungen mit grüner Farbe markiert: „Begegnung Schlemihls mit dem grauen Männlein auf der Landstraße“ und „Schlemihls Begegnung mit dem Schatten“. Ein weiteres Blatt 1 der Serie mit der Farbe Grün, die Gercken im Werkverzeichnis erwähnt, befindet sich als Dauerleihgabe im Kirchner Museum Davos. Erneut spielt Kirchner mit der Setzung der Farben, überzieht etwa das Gesicht und die Hände des sonderbaren Mannes mit Grün, färbt die Innenseite des Hutes mit leuchtendem Rot und hellt das sonst eingesetzte, starkfarbige Violett auf und färbt auch die beiden, die Szene begleitenden Damen gleichsam mit ein. Die attraktive Wirkung der beiden Einzelblätter ist herausragend und zeigt, dass Kirchner trotz seiner traumatischen Angst, zum Kriegsdienst eingezogen zu werden, Großartiges zu schaffen versteht. [MvL]



207
Ernst Ludwig Kirchner
Der Verkauf des Schattens, 1915.
Farbholzschnitt
Schätzung:
€ 80.000
Ergebnis:
€ 250.000

(inkl. Käuferaufgeld)