Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 9

 

9
Ernst Ludwig Kirchner
Kniender Akt, 1905/06.
Schwarze Kreidezeichnung
Schätzung:
€ 10.000
Ergebnis:
€ 30.000

(inklusive Aufgeld)
Kniender Akt. 1905/06.
Schwarze Kreidezeichnung.
Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Registriernummer "B Dre/Bg 17". Auf chamoisfarbenem Velin. 43,3 x 34,3 cm (17 x 13,5 in), blattgroß.
Verso mit dem Fragment einer weiteren schwarzen Kreidezeichnung. [CH].

• Kunsthistorisch bedeutende Entstehungszeit: 1905 gründen Kirchner, Heckel, Schmidt-Rottluff und Bleyl die "Brücke", in die 1906 auch Pechstein und Nolde eintreten.
• Die dynamisch-spontane Skizze ist Ausdruck von Kirchners tiefgreifendem Interesse für menschliche Anatomie, Haltung und Bewegungsabläufe.
• Kirchner und die "Brücke"-Künstler liefern eine neuartige, wegweisende Interpretation des weiblichen Aktes als eigenständiges Bildelement
.

Wir danken Herrn Prof. Dr. Dr. Gerd Presler für die freundliche wissenschaftliche Beratung.

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ:
Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946, verso mit dem handschriftlich nummerierten Nachlassstempel).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, Stuttgart (1954).
Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern.
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, 2002 vom Vorgenannten erworben).

AUSSTELLUNG:
Ernst Ludwig Kirchner zum 120. Geburtstag. Gemälde, Aquarelle und Zeichnungen, Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern 2000, Kat.-Nr. 1.
Die Brücke in Dresden. 1905-1911, Dresdner Schloss, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister, 20.10.2001-6.1.2002, Kat.-Nr. 101 (m. Abb.).
Die Brücke in Dresden 1905-1911, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, 20.10.2001 bis 6.1.2002, Kat.-Nr. 101.
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, bis 2017).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina, Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 115, S. 198f. (m. Abb.).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR:
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 288, SHG-Nr. 651 (m. Abb.).
Wolfgang Henze, Kirchner der Zeichner - am Beispiel seines Menschenbildes 1909-1936, Galerie Henze & Ketterer, Wichtrach/Bern 2009, Kat.-Nr. 78, S. 5-19 (m. Abb., Nr. 6).
Buchheim Museum (Hrsg.), Brückenschlag: Gerlinger - Buchheim! Museumsführer durch die "Brücke"-Sammlungen von Hermann Gerlinger und Lothar-Günther Buchheim, Feldafing 2017, S. 78 (m. Abb., S. 79).

"Kniender Akt" entstand in jener Zeit, in der sich Kirchner oft, fast täglich mit seinen "Brücke"-Freunden Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff im Atelier an der Berliner Straße zum Studium des weiblichen Aktes traf. Es galt, "Viertelstundenakte hinzuhauen", wie er schreibt, keine bis ins Detail perfekte Wiedergabe, möglichst genau nach den klassischen Vorgaben der Perspektive. Vielmehr: Was hier in einem raschen, geradezu rauschhaften Rhythmus entstand, war geprägt von Dynamik, Bewegung, Geschwindigkeit.

Bisher unbeachtet blieb die Rückseite: "Sitzende Frau". Verschlungene Linien umkreisen eine Frau, einen Stuhl (?) und formen diese Szene zu einem wirbelnden Geschehen: Zeugnis für die Überwindung der klassischen Regeln der Akademie. Beide Seiten vermitteln den schmalen Zugang zu den zeichnerischen Anfängen von Ernst Ludwig Kirchner.


Prof. Dr. Dr. Gerd Presler, Verfasser des Werkverzeichnisses für Ernst Ludwig Kirchners Skizzenbücher.

Kirchners Zeichnung eines knienden Akts zeigt zugleich seinen hohen Rang und seine frühe Sicherheit, eine Situation auch in der Flächendisposition zu beherrschen. Der Akt ist zentral in das Bildviereck eingespannt, halb kniend, halb hockend, die linke (und vermutlich auch die rechte) Hand stützen den Oberkörper, die Ellenbogen zeigen zum (kompositorischen) Ausgleich streng nach hinten, der Blick ist auf den Künstler gerichtet. Mit wenigen, schnellen Schraffuren deutet Kirchner einen imaginären Raum an und gleichzeitig hebt er mit den Schattenzonen die Tiefendimension auf. Kirchner steigert den Eindruck eines flachen Reliefs, eine neuartige Interpretation des Aktes als selbständiges Bildelement. In einigen Fällen hat Kirchner, vermutlich wie hier, entscheidende Impulse gegeben, die für die künstlerische Leistung der "Brücke" von zentraler Bedeutung sind. In diesem Zusammenhang sind vor allem die "Viertelstundenakte" zu nennen, die von den jungen Architekten als zentrale Fingerübung in der zeichnerischen Weiterbildung angesehen werden und deren Spontaneität ganz Kirchners Intention nach einer unmittelbaren Wiedergabe des Gesehenen und Erlebten entspricht. [MvL]



9
Ernst Ludwig Kirchner
Kniender Akt, 1905/06.
Schwarze Kreidezeichnung
Schätzung:
€ 10.000
Ergebnis:
€ 30.000

(inklusive Aufgeld)