Auktion: 500 / Evening Sale am 17.07.2020 in München Lot 205


205
Ernst Ludwig Kirchner
Dorfstraße mit Apfelbäumen, 1907.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 400.000
Ergebnis:
€ 1.045.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Dorfstraße mit Apfelbäumen. 1907.
Öl auf Leinwand.
Rechts unten wohl von Erna Kirchner bezeichnet "E. L. Kirhner" [sic]. 60 x 50 cm (23,6 x 19,6 in).

• Spektakuläre Wiederentdeckung.
• Vollständig geschlossene Provenienz.
• Aus der bedeutenden Sammlung Rauert, Hamburg.
• Wichtiges frühes Zeugnis für Kirchners expressionistische Farbpalette
.

Mit einer schriftlichen Bestätigung von Dr. Wolfgang Henze, Wichtrach/Bern, vom 24. Juni 2020. Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert und wird in den Nachtrag des Werkverzeichnisses aufgenonmmen.

PROVENIENZ: Sammlung Martha und Dr. Paul Rauert, Hamburg (1918 von Erna Kirchner erworben, bis 1937 in Besitz).
Hildebrand Gurlitt, Hamburg (1937 vom Vorgenannten erworben).
Sammlung Dr. Johannes Schürer, Mülheim an der Ruhr (1937 vom Vorgenannten erworben).
Seither in Familienbesitz.
Das Werk ist frei von Restitutionsansprüchen.

AUSSTELLUNG: Nyare Tysk Konst, Liljevalchs Konsthall, Stockholm, 1922.
Leih-Ausstellung aus Hamburgischem Privatbesitz in der Kunsthalle, Mai 1925, Nr. 168 („Haus mit Apfelbaum“).

LITERATUR: Gerd Presler, Ernst Ludwig Kirchner. Die Skizzenbücher. "Ekstase des ersten Sehens", 1996, S. 229 (Erwähnung in Skb 35, S. 41)
Hans Delfs, Ernst Ludwig Kirchner - der gesamte Briefwechsel "Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle", 2010, Nr. 1379.
"Diese Landschaft ist eine kleine einmalige Zufallsprobe, in der ich einmal das Malen mit Strichen versuchte."
Ernst Ludwig Kirchner an Gustav Schiefler am 15. Dezember 1924 über sein Gemälde "Dorfstraße mit Apfelbäumen"



Kirchners Szene einer idyllischen Vorstadt mit Häusern, Vorgärten, Obstbaumallee ist in die erste Phase stilistischer Orientierung einzuordnen und folgt dem französischen, neoimpressionistischen Divisionismus eines Georges Seurat und Paul Signac, respektive der ausdrucksstarken Malerei von Vincent van Gogh, Künstler, die Kirchner und die weiteren Mitglieder der „Brücke“ in Ausstellungen in Dresden studieren können: also jene die Farbflächen auflösenden, aber wie hier nebeneinandergesetzten, kurzen Pinselstriche diverser, durchaus stark kontrastierender Farben, die nach der Lehre Signacs subjektiv im Auge des Betrachters den expressiven, gleichsam ‚wilden’ Eindruck des Motivs harmonisieren. Während Karl Schmidt-Rottluff und Erich Heckel den Sommer in Dangast verbringen, malt Kirchner zusammen mit Max Pechstein in Goppeln, einem Gutsdorf an den südlichen Hängen des Dresdner Elbtals. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Goppeln von einer Gruppe junger Künstler entdeckt, die sich der Freiluftmalerei und dem Impressionismus zuwenden, Maler wie Carl Bantzer, Robert Sterl und Paul Baum gehen als „Goppelner Schule“ in die Dresdner Kunstgeschichte ein.

Kirchner malt in Goppeln

Unter den dort entstehenden Gemälden Kirchners sind heute unter anderem erhalten „Grünes Haus“ (Gordon 26), „Obstbäume“ (Gordon 25) und „Dorfstraße mit Apfelbäumen“ (nicht bei Gordon). Gegenüber dem von Signac geforderten strengen Pointillismus öffnet Kirchner diesen und ordnet etwa das Motiv „Grünes Haus“ nicht nur mit kontrastreichen Primärfarben, sondern passt auch die Pinselführung den jeweiligen Details an, so etwa die Fassade mit hellem Grün und Orange in senkrecht gesetzten Strichen und die mit leuchtend hellem Blau umrandeten Fenster. Dieses Blau findet sich im Dialog mit einem kräftigen Rot der Dächer weiterer Gebäude. In befreiender fauvistischer Malweise sieht Kirchner einen Hain mit Obstbäumen, deren ineinander verwobene Blätterkronen unter einem gelben Sonnenhimmel er mit krummen, schwarz- und lilafarbenen Baumstämmen erdet und mit der erdfarbenen Andeutung für den Weg eine motivische Kennung verleiht. Nicht weniger temperamentvoll im Verteilen von kräftigen Farben ordnet Kirchner die Dorfstraße entlang der Apfelbäume mit Blick auf die Fassade eines geduckten Landhauses. Mit wenigen festgelegten Pinselhieben gliedert Kirchner die Architektur, die sich in goldgelbem Ton vor dem tiefen, kräftig inszenierten Blau des Himmels behauptet. Akkurat geordnete Lattenzäune säumen den nicht weiter einsehbaren Garten und grenzen ihn ab zum vorbeiführenden Weg, der den blauen Schatten der Obstbäume einer tiefer stehenden Sonne aufnimmt. Ein herrlicher Sommertag, den Kirchner mit dieser Landschaft mit Apfelbäumen voller reifer Früchte skizziert und mit überbordenden Farbnuancen beschreibt.

Kirchner studiert Vincent van Gogh
Diese ersten überlieferten Gemälde Kirchners zeigen bereits die für ihn typisch werdende Resolutheit im Umgang mit dem Motiv und einer nicht unbedingt objektiven Farbgebung. Die im November 1905 in der Galerie Arnold in Dresden zu sehende Ausstellung mit rund 50 Werken Vincent van Goghs nimmt nicht nur für Kirchner, sondern auch für die jungen Mitglieder der "Brücke" stilprägenden Einfluss in den ersten Jahren ihrer Karriere als Künstler. Welche Gemälde und Zeichnungen Kirchner für sich damals interessant findet, können wir heute schwer einschätzen und wenn, dann auch nur darüber spekulieren. So sieht er bei Arnold beispielsweise diesen „Blühenden Obstgarten“ van Goghs, an den er sich erinnern mag, als er sich diese Obstbäume (Gordon 27) zum Motiv wählt und sich lediglich großzügig der Struktur bedient, um diesen „Weg mit (Obst)-Bäumen“ in hohem Tempo und temperamentvollem Pinselduktus zu realisieren. Wenngleich sich ein direkter Vergleich auf eine Architektur, eine Baumallee und einen Weg als solches reduzieren lässt, kann der „Blühende Obstgarten“ ebenso einen stimmigen Vorbildcharakter für die „Dorfstraße mit Apfelbäumen“ entfalten. Für seine Komposition entlehnt Kirchner die bei van Gogh vorgetragene Struktur und Perspektive und entscheidet sich für einen charaktervoll und kräftig gesetzten Pinselduktus, um sein Motiv mit kontrastvoller Palette zu verwirklichen. Jahre später, in einem Brief an Gustav Schiefler vom 15. Dezember 1924, erinnert sich der Künstler in einem anderen Zusammenhang dieser Landschaft, „in der ich einmal das Malen mit Strichen versuchte“. Mit dieser eher beiläufigen Aussage räumt Kirchner auch seine Zeit des Sammelns von technischen Erfahrungen als Maler ein.
Die Provenienz
„Dorfstraße mit Apfelbäumen“ ist nicht datiert, die Signatur stammt nicht von Kirchner, sondern von Erna Schilling, die den Verkauf in Berlin während seiner zeitweisen Abwesenheit in den Kriegsjahren und danach in Davos erledigt und entsprechend nicht signierte Gemälde „signiert“. Das Erna bisweilen ungeübt ein Fehler unterläuft wie hier, muss also nicht irritieren.
Diese frühe, im Sommer 1907 entstandene Landschaft gelangt laut einer von Erna verfassten Versandliste vom 15. April 1918 an „Dr. Rauert, Hamburg Kleinflottbeckerw“ mit dem Titel „Dorfstrasse Haus mit Obstbäumen u. Zaun“ in die Sammlung Martha und Dr. Paul Rauert in Hamburg. In einem Brief Gustav Schieflers an Kirchner vom 16. April 1924 bestätigt Rauert auf indirektes Verlangen des Künstlers das Gemälde „Dorfstraße mit Apfelbäumen“ in einer Auflistung seiner sechs Kirchner-Gemälde. Die „Dorfstraße“, so auch ein weiterer (Kurz-)Titel für dieses Gemälde, bleibt in der Sammlung Rauert bis 1937. Im Juni veräußert er das Gemälde an den in Hamburg tätigen Kunsthistoriker und Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, der nach seiner Entlassung als Leiter des Hamburger Kunstvereins sich ab Juli 1933 als kenntnisreicher Kunsthändler selbständig macht. Noch im selbem Monat kann er die „Dorfstraße“ an einen Sammler in Mülheim vermitteln, in dessen Nachlass das Werk sich bis heute befindet. [MvL]



205
Ernst Ludwig Kirchner
Dorfstraße mit Apfelbäumen, 1907.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 400.000
Ergebnis:
€ 1.045.000

(inkl. Käuferaufgeld)