Auktion: 530 / Evening Sale / Sammlung Hermann Gerlinger am 10.06.2022 in München Lot 71


71
Max Beckmann
Holländischer Radfahrweg, 1940/1942.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 300.000
Ergebnis:
€ 375.000

(inklusive Aufgeld)
Holländischer Radfahrweg. 1940/1942.
Öl auf Leinwand.
Göpel 615. https://www.beckmann-gemaelde.org/615-hollaendischer-radfahrweg [letzter Zugriff: 25.1.2022]. Unten mittig signiert, datiert "43" und bezeichnet "A" für Amsterdam. 71,5 x 48,5 cm (28,1 x 19 in).
Im Skizzenbuch 43 verzeichnet Max Beckmann seit 1934 entstandene Gemälde. Hier ist auch "Holländischer Radfahrweg" verzeichnet. In einem undatierten Brief von Quappi Beckmann an den Sammler May ist vermerkt, dass das Gemälde am 10. November 1942 vollendet wurde und die Datierung 1943 erfolgte. [EH].

• Gemalt in der schicksalhaften Amsterdamer Exilzeit.
• Max Beckmann wählt für dieses Landschaftsgemälde eine im Gesamtœuvre außergewöhnliche Vogelperspektive.
• Schilderung eines Fahrradausfluges in der Grachtenlandschaft um Hilversum, wie ihn Max und Quappi Beckmann auch in dieser schwierigen Zeit unternommen haben.
• Das Gemälde befand sich annähernd 30 Jahre in der hervorragendsten Beckmann-Sammlung der USA: Sammlung Morten D. May, St. Louis.
• Neben dem Gemälde "Holländischer Radfahrweg" entstehen in der wichtigen Zeit von 1940-1942 mehrere Hauptwerke Beckmanns, darunter das Triptychon "Abfahrt" (MoMA, seit 1942)
.

PROVENIENZ:
Karl Buchholz, Berlin (frühestens Nov. 1942, vermutlich Kauf).
Karl-Heinz Brandt (vermutlich ab Herbst 1944 bis Januar 1945; kriegsbedingte Verwahrung).
Rosgartenmuseum, Konstanz (1945, Verwahrung).
Marie Louise Buchholz, Überlingen (1945-April 1948, Verwahrung).
Karl Buchholz, Madrid (April 1948-1949, von Vorgenannter übernommen).
Buchholz Gallery Curt Valentin, New York (vermutlich 1949-1955, vom Vorgenannten erworben) (verso auf dem Keilrahmen mit einem Etikett).
Morton D. May, St. Louis (1955 vom Vorgenannten erworben, im Besitz bis 1983).
Sammlung Margie Wolcott May, St. Louis (vom Vorgenannten ererbt, bis 1986).
Privatsammlung Blohm, Hamburg (1986 von Vorgenannter erworben, Christie’s London, 23.6.1986).

AUSSTELLUNG:
Max Beckmann, Chicago Art Center, März/April 1955, Kat.-Nr. 4.
Max Beckmann. Retrospective Exhibition, City Art Museum, St. Louis, 1956, Paintings from the Collection of Mr. and Mrs. Morton D. May (ohne Katalog).
SAINT LOUIS Pius XII Memorial Library, 14.2.-4.7.1960, Kat.-Nr. 68 m. Abb. (hier: Holland Landscape with Road).
German Expressionist Paintings from the Collection of Mr. & Mrs. Morton D. May, Denver Art Museum, Denver / University of California, Los Angeles / Fine Arts Gallery, San Diego / M. H.de Young Memorial Museum, San Francisco / Art Institute, Chicago / Butler Institute of American Art, Younstown / Art Institut, Akron / Carnegie Institute, Pittsburgh u.a., 1960-1962.
The Morton D. May Collection of 20th Century German Masters, Marlborough Gerson Gallery, New York, 1970 / City Art Museum, St. Louis, 1970, Kat.-Nr. 34 m. Abb.
Five Students of Max Beckmann, Washington University, St. Louis, 1984.
Max Beckmann. Landschaft als Fremde, Kunsthalle Hamburg / Kunsthalle Bielefeld / Kunstforum Wien, 1998/99, Kat.-Nr. 66 m. Farbabb. S. 83.
Im Zentrum: Ernst Ludwig Kirchner. Eine Hamburger Privatsammlung, Kunsthalle Hamburg / Kirchner Museum, Davos / Brücke-Museum Berlin, 2001, S. 124, Kat.-Nr. 5 m. Farbabb. S. 144 (verso auf dem Keilrahmen mit einem Etikett).
Zeit im Blick. Felix Nussbaum und die Moderne, Felix-Nussbaum-Haus, Osnabrück, 5.12.2004-28.3.2005, Kat.-Nr. 44 m. Farbabb. S. 84.

LITERATUR:
Benno Reifenberg u. Wilhelm Hausenstein, Max Beckmann, München 1949, S. 77, Nr. 460.
MoMa Curt Valentin Papers - VII.C.1 - Statements A-L: 5.12.1955: Verkauf an Morton D. May für 500 $ (Inventory 11058).
Christie's, London, Impressionist, Expressionist and Modern Paintings and Sculpture, 23.6.1986, Los 52.
Beatrice von Bormann, Landschaften des Exils - Max Beckmanns niederländische Jahre 1937-1947, in: Ausst.-Kat. Max Beckmann. Die Landschaften, Kunstmuseum Basel 2011/12, S. 45ff. m. Farbabb. 26.



Leben im Exil
Als Max Beckmann dieses Gemälde am 3. Oktober 1940 in seinem Tagebuch als „fertig“ beschreibt, lebt er mit seiner Frau Mathilde, gen. Quappi, schon seit gut drei Jahren im Exil in Amsterdam. 1937 war er aus Deutschland dorthin geflüchtet, als mit der Beschlagnahme seiner Werke aus Museen und der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München unmissverständlich klar wurde, wie es auch in Zukunft um die Möglichkeiten einer freien Malerei in Nazi-Deutschland bestellt sein würde. Die ernsthafte Überlegung nach 1930, erneut nach Paris zu ziehen, verfällt, als am 3. September 1939 Frankreich und Großbritannien Deutschland nach dessen Überfall auf Polen den Krieg erklären. Am 10. Mai 1940 beginnt der Westfeldzug der deutschen Wehrmacht mit dem Hauptziel, Frankreich zu erobern. Gleichzeitig überfallen die Deutschen auch die Niederlande, der Krieg kreist bald das einst so friedliche Amsterdam ein. Die Bedrohung der nächtlich überfliegenden Flugzeuge wird zur Tagesordnung. Die Einschränkungen im täglichen Leben werden für den Künstler spürbarer, an Reisen ins Ausland ist nicht mehr zu denken. Zudem bleiben seine Bemühungen um ein Visum für die USA ohne Erfolg. Die deutsche Wehrmacht begegnet ihm jetzt im selbstgewählten Exil, das er aufgesucht hatte, um der politischen Entwicklung in Deutschland zu entkommen, und wo er nun unvermittelt eingeholt wird. Hilfreiche Freunde ermöglichen Beckmann in jenen Jahren, sein Leben und sein Schaffen fortzusetzen. Günther Franke, sein wichtigster Händler in München, unterstützt Beckmann und erwirbt Bilder aus der Amsterdamer Zeit, die etwa sein Sohn Peter, Stabsarzt bei der Luftwaffe, dann mit ihm zur Verfügung stehenden Transportmitteln nach München schmuggelt.
Auch mit anderen in Amsterdam ansässigen, geistig interessierten Menschen trifft sich Beckmann regelmäßig zum Austausch, vor allem mit dem Dichter Wolfgang Frommel, den Malern Friedrich Vordemberge-Gildewart und Otto Herbert Fiedler, oder mit seinem Biografen und Werkchronisten Erhard Göpel. Sie alle erscheinen in Beckmanns großartiger Bilderwelt. "Und dennoch litt er sehr unter Isolation, Verdunkelung und mangelhafter Ernährung", so sein amerikanischer Freund und bis Herbst 1939 in Paris lebender Sammler Stephan Lackner, der Beckmann mit monatlichen Erwerbungen unterstützt und dem Künstler damit ein Einkommen sichert. "Sogar der Strand von Zandvoort, wohin er und Quappi sehr oft geradelt waren, war ab Juni 1942 mit Stacheldraht verrammelt. Es ist erstaunlich, wie der Maler in seiner Phantasie von intensiven Erinnerungen zehrte. Immer wieder erscheinen Landschaften aus Cap Martin, Monte Carlo und Bandol im Œuvre von 1940 bis 1944." (Stephan Lackner, Exil in Amsterdam und Paris, in Ausst.-Kat. Max Beckmann. Retrospektive, München 1984, S. 155) Postkarten und Fotografien dienen dem Künstler damals, seine Erinnerungen an die seinerzeit besuchten französischen Badeorte oder niederländischen Küstenlandschaften zu schärfen. Lackner erwähnt auch, dass die Amsterdamer Jahre Beckmanns von schöpferischer Produktivität geprägt sind, er schuf mit 280 Gemälden ein Drittel seines malerischen Werks. Es entstehen neben den mythologisch und bedeutungsschwanger aufgeladenen Figurenkompositionen auch Landschaften, die sich wie Urlaub und Erholung von dem „Welttheater des Malers Beckmann“, wie es Stephan Lackner 1938 treffend beschreibt, unterscheiden.

Und so wirkt auch "Holländischer Fahrradweg", auch "Hilversumer Waldlandschaft" genannt, wie eine erholende Betrachtung, eine Hommage an die lieb gewonnene Landschaft seiner Wahlheimat, die Niederlande, "die erst im Mai 1940 beim Einmarsch der Deutschen in den Krieg hineingezogen wurden und wir in der Falle saßen", so Mathilde "Quappi" Beckmann in ihrer Erinnerung an das Leben mit Max Beckmann (München 1985, S. 27). "Trotz der häufigen Depressionen, die Max befallen, weil er sich das Elend des Krieges so zu Herzen nimmt, liebt er Amsterdam immer mehr. Er wandert oft die Kanäle entlang, geht auch oft ins Rembrandt-Haus, um über Rembrandt, den er über alles schätzt und verehrt, nachzudenken. Auch die Umgebung von Amsterdam hatte es ihm angetan. In den ersten Kriegsjahren fuhren wir oft an die See. Von 1942 an waren Ausflüge an die Küste nicht mehr erlaubt. Wir fuhren dann mit der Bahn nach Hilversum, mieteten uns Fahrräder und radelten stundenlang durch den Wald oder durch die blühende Heide. ‚Wunderbare Radtour Hilversum, Eykenstein. Brachte Fingerhutbouquett mit heim‘, schrieb Max am 7. Juli 1942 in sein Tagebuch. Als es noch erlaubt war, fuhren wir nach Haarlem und Overveen und radelten auf der Landstraße hinter dem Strand durch die Dünen. Aber diese Ausflüge ließen sich nicht lange fortsetzen, weil die Luftangriffe der Alliierten immer häufiger und heftiger wurden", so Mathilde "Quappi" Beckmann weiter (ebd.). Max Beckmann malt in Holland neben den "mythologisch und bedeutungsschwanger aufgeladenen Figurenkompositionen" eine größere Gruppe von Landschaftsbildern, ist auch dort immer wieder ans Meer gefahren und hat ausgiebige "Fietstours" mit dem Fahrrad unternommen, die sich teilweise identifizieren lassen, wie etwa Overveen mit Wasserturm, die Zypressen von Eyckenstein oder einige Landschaften von Laren.



Hilversum: Ein harmonischer Tag Mitten im Krieg

Hilversum, etwa 30 Kilometer südlich von Amsterdam auf dem Weg nach Utrecht gelegen, ist noch heute bekannt für seine Wander- und Fahrradwege. Die Szene inspiriert laut Werkverzeichnis den Künstler nach einem Ausflug mit dem Fahrrad, den er gemeinsam mit seiner Frau am 4. Mai 1940 unternimmt. Am 7. Juli 1942 unternimmt das Ehepaar erneut eine Fahrradtour in Hilversum, woraufhin das Gemälde anscheinend einer Überarbeitung unterzogen wird. (Siehe auch den Eintrag in die Bilderliste von 1942) Es wird vermutet, dass Beckmann zunächst die Erinnerung an eine Waldlandschaft deutlicher herausstellt, die dann jedoch zugunsten des Radfahrwegs motivisch stärker in den Hintergrund rückt. (Eintrag im Catalogue raisonné, 2021, https://beckmann-gemaelde.org/615-hollaendischer-radfahrweg) Auch die umsäumten Beete, die den linken Teil des Gemäldes dominieren, scheinen demnach erst 1942 vom Künstler mehr Aufmerksamkeit zu erfahren, ebenso die rechte untere Ecke der Komposition mit einem Stangenspalier und vermutlich die Gracht, die zunächst parallel zum Fahrradweg entlangführt, um dann plötzlich im rechten Winkel die Richtung zu wechseln. Die mächtigen Bäume im Hintergrund spiegeln sich im Wasser einer Gracht oder eines der vielen Seen oder Kanäle, welche die charakteristische niederländische Flachlandschaft im Landesinneren abwechslungsreich bereichern. Auffallend dazu ist die Wahl der Perspektive, die der Künstler wählt: eine spürbar herausgestellte Aufsicht, womit er die Szene mit den Radfahrern wie aus einer Vogelperspektive festhält, ein darstellerisches Mittel, das Beckmann häufig in seiner Landschaftsmalerei anwendet. Nicht zuletzt, um wie hier mit der Aufsicht die erzählerische Dichte und zugleich Weite dieser Landschaft abzubilden. [MvL]



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Max Beckmann
Holländischer Radfahrweg, 1940/1942.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 300.000
Ergebnis:
€ 375.000

(inklusive Aufgeld)