Auktion: 514 / Evening Sale am 11.12.2020 in München Lot 236

 

236
Ernst Ludwig Kirchner
Unser Haus, 1918-1922.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 500.000
Ergebnis:
€ 1.645.000

(inkl. Käuferaufgeld)
Unser Haus. 1918-1922.
Öl auf Leinwand.
Gordon 631. Verso signiert, datiert, betitelt und bezeichnet "Davos-Frauenkirch". Rechts unten von Erna Schilling im Auftrag von Ernst Ludwig Kirchner signiert. 91 x 120,5 cm (35,8 x 47,4 in).
[SM].
• Einzige Darstellung Kirchners Wohnhaus „In den Lärchen"
• Kirchner entwickelt Empathie und Stolz mit diesem außergewöhnlich großen Bildformat für seine neue Heimat
• Der ‚Architekt‘ fokussiert die feste Architektur in der Almlandschaft umgeben von einem Meer von Lupinen
• Aus dem Nachlass des Künstlers
• Eines der wenigen Werke, die von der Familie bis heute zurückgehalten wurden
• Erstmals auf dem internationalen Auktionsmarkt angeboten
.

PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers.
Seither in Familienbesitz.

AUSSTELLUNG: Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Nationalgalerie Berlin, 29.11.1979-20.1.1980; Haus der Kunst, München, 9.2.-13.4.1980; Museum Ludwig in der Kunsthalle Köln, 26.4.-8.6.1980; Kunsthaus Zürich, 20.6.-10.8.1980, Kat.-Nr. 316 mit Abb. S. 260.
Expressionismus aus den Bergen. Kirchner, Bauknecht, Wiegers und die Gruppe Rot-Blau, Kunstmuseum Bern, 27.4.-19.8.2007; Groninger Museum, 22.9.2007-13.1.2008; Bündner Museum, Chur, 16.2.-25.5.2008, Kat.-Nr. 27, Ausst.-Kat. mit Abb. S. 47.

LITERATUR: Gustav Schiefler, E. L. Kirchner in Davos, in: Das Kunstblatt, Sonderheft Ernst Ludwig Kirchner, VII/3, 1923, S. 84 mit sw-Abb. (vor der Überarbeitung durch ELK)
Lucius Grisebach, Ernst Ludwig Kirchner. 1880-1938, Köln 1995, S. 174.
Magdalena Moeller/Roland Scotti (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Gemälde, Aquarelle, Zeichnungen und Druckgraphik. Eine Ausstellung zum 60. Todestag, Kunstforum Wien, 8.12.1998-28.2.1999; Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung, München, 12.3.-30.5.1999, Ausst.-Kat. mit Abb. S. 67.

„So lebe ich hier ganz ruhig und wohlbesorgt in allem nun unten in Frauenkirch und bemühe mich die oben gewonnenen Bilder soweit lesbar zu machen, dass ich eine Ausstellung mit Ehren bestehen kann. Vielleicht kann ich die diesjährige Ausstellung ganz mit Bildern von hier füllen, an Stoff fehlt es nicht [..]."
Kirchner an Henry van de Velde am 13. Oktober 1918, in: Ernst Ludwig Kirchner, Briefe an Nele, München 1961, S. 92.

Hier unten stehen die Hütten in kräftigem Pariser Blau auf den gelben Wiesen. Man lernt überhaupt erst hier den Wert der einzelnen Farben kennen. Und dazu die herbe Monumentalität der Berglinien. Es herrscht eine unendliche Ruhe. In dem so gemütlichen und warmen Bündner Zimmer versuche ich nun meine unfertigen Bilder etwas weiter zu führen.“
Aus einem Brief Kirchners an Nele van der Velde, zit. nach: E.L. Kirchner. Briefe an Nele, 1961, S. 9.

Das Leben in den Bergen
Hirten und ihr Leben mit den Tieren auf der Alp werden zu einem zentralen Thema Kirchners. Er trifft am 8. Mai 1917 das zweite Mal in Davos ein, um, wie er an den befreundeten Architekten Henry van de Velde bemerkt, „meine Kur zu vervollständigen“. Den Sommer über wohnt Kirchner mit einer Krankenschwester in der „Rüesch-Hütte“ auf der Stafelalp oberhalb von Frauenkirch. Obwohl er zeitweise unter Lähmungen leidet und seine Briefe nicht selbst schreiben kann, entstehen Landschaften und Bildnisdarstellungen von seiner neuen Lebensumgebung, geprägt von einer ungebrochenen, elementar kämpferischen Kraft. Und dennoch leidet Kirchner weiter unter alptraumartigen Ängsten; er kommt nicht zur Ruhe. Henry van de Velde kann Kirchner nach einem Besuch auf der Stafelalp überreden, sich dem Psychiater und Psychoanalytiker Ludwig Binswanger anzuvertrauen. Ab Mitte September 1917 verbringt Kirchner zehn Monate im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee. Von seinem Sanatoriumsaufenthalt in Kreuzlingen kehrt Kirchner also im Juli 1918 nach Davos zurück und bewohnt die ihm von Martin Schmid überlassene Hütte auf der Stafelalp; erst Ende September zieht Kirchner in ein winterfestes Bauernhaus, welches ihm die Familie Müller aus der Hofgruppe „In den Lärchen“ oberhalb der „Längmatte“ in Frauenkirch zur Verfügung stellt. Kirchner identifiziert sich mit seiner direkten Umgebung, lebt im Grunde wie die Sennbauern und Hirten mit den Tieren auf der Alm; er fotografiert die Landschaft, fotografiert seine Mitmenschen, die ihm neugierig und wohlwollend begegnen: dem Sonderling aus Berlin.

Unser Haus "In den Lärchen"
Das Haus "In den Lärchen", ein Bündner Bauernhaus, liegt am Südrand der großen Wiesenfläche unterhalb der Stafelalp. Zuerst bewohnt Kirchner mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling nur das untere Geschoss des Hauses, ab Januar 1919 das gesamte Haus mit drei Zimmern, Wohnküche und einer großen Eingangshalle. Zum Anwesen gehören eine Scheune, ein Brunnen- und ein Bienenhaus. „So lebe ich hier ganz ruhig und wohlbesorgt in allem nun unten in Frauenkirch und bemühe mich die oben gewonnenen Bilder soweit lesbar zu machen, dass ich eine Ausstellung mit Ehren bestehen kann. Vielleicht kann ich die diesjährige Ausstellung ganz mit Bildern von hier füllen, an Stoff fehlt es nicht, nur die Durchführung macht mir Schwierigkeiten. Ich wohne in einem schönen alten Bündnerhaus mit einer Küche wie das Atelier Rembrandts." (Kirchner an Henry van de Velde am 13. Oktober 1918, in: Ernst Ludwig Kirchner, Briefe an Nele, München 1961, S. 92)
Das Gemälde „Unser Haus“, rückseitig in großen Lettern betitelt und datiert, konzipiert Kirchner vielleicht noch 1918, beginnt es wohl erst im Sommer 1919 und verändert womöglich 1920 oder später das eine oder andere Detail. Das Gemälde zitiert das weiß gekalkte Haus mit den drei Nutzgebäuden und einer gemauerten Garteneinfassung. Davor dehnt sich ein Feld blühender Lupinen aus, die im frühen Sommer ihre Farbgewalt entfalten. Im Hintergrund erhebt sich steil ein grüner Hang mit roten Flächen, der bis an eine Reihe dunkler Tannen reicht, davor geduckt eine der vielen Berghütten in der Nachbarschaft. Kirchner ‚überhöht‘ das „Lärchen“-Haus: Die Fensteröffnungen wirken kleiner als in der Realität, der Sockel des Untergeschosses höher, eingefriedet von einer wehrhaften Gartenmauer. Gustav Schiefler, Hamburger Richter, Kunstsammler, Kunstkritiker und Verfasser des Werkverzeichnisses der Druckgrafik Kirchners, veröffentlicht eine vom Künstler selbst gemachte Aufnahme nach der ersten Fertigstellung des Gemäldes in seinem 1923 verfassten Beitrag über „E. L. Kirchner in Davos“ für "Das Kunstblatt. Sonderheft Ernst Ludwig Kirchner" (VII/ 3, 1923, S. 84). In der Gegenüberstellung lässt sich unschwer eine leichte, für Kirchner nicht untypische Überarbeitung von einmal verabschiedeten Gemälden feststellen, etwa in Bereichen des Bauerngartens, der Herausstellung der rosaroten dichten Blütenkerzen von Lupinen, in Details an der Architektur und des flächenhaften Zusammenziehens im Hintergrund. Dies hat mit Kirchners Zuwendung zu einer Versachlichung der Motive zu tun. Kirchner entwickelt zusehends seinen Davoser Stil und entfernt sich immer weiter vom ursprünglichen „Großstadtexpressionismus“ der Dresdner und Berliner Zeit.

Ein künstlerischer Umbruch
Trotz seiner psychischen Belastung und teilweise auftretenden Lähmungen ist die erste Zeit in Davos im Sommer 1917 und anschließend ab Sommer 1918 äußerst produktiv. Jeder einzelne Lebensort ist so mit einer Vielzahl von Arbeiten verbunden, auch die Vielseitigkeit der eingesetzten Medien ist erstaunlich: Neben zum Teil recht großen Ölgemälden entstehen Serien von Holzschnitten und Radierungen, Aquarelle und Zeichnungen bis hin zu lebensgroßen Holzskulpturen. Kirchner beginnt mit Schnitzarbeiten, fertigt Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände aller Art, schnitzt Hocker, Stühle, Bettgestelle und Schalen, überträgt Bildentwürfe in großflächige Holzreliefs, Teppiche nach Kirchner’schen Motiven werden gewebt. Die große Eingangshalle wird zur Bühne ereignisreicher, ungezwungener Begegnungen mit den bäuerlichen Großfamilien aus der Nachbarschaft, mit den Gästen, die Kirchner in der abgeschiedenen Bergwelt besuchen, wie Henry van de Velde sowie dessen Tochter, die Künstlerin Nele, die Tänzerin Nina Hard oder der Bruder Walter Kirchner. Kirchner versteht es wie schon in Dresden oder in Berlin, sein Atelier und seine häusliche Umgebung in einen vertrauten, wenngleich exotischen Ort zu verwandeln, zum Verweilen einzuladen und daraus künstlerische Motive zu schaffen. Mit der Stabilisierung seiner Gesundheit und Festigung der Lebensverhältnisse beruhigt sich auch sein seelischer Zustand. „Unser Haus“ ist ein wunderbares Beispiel für den beginnenden Stilwechsel Kirchners, den er selbst mit der Struktur orientalischer Teppiche verglich. Man spürt in dem farbgewaltigen Motiv förmlich die tiefgreifende Zufriedenheit und das wachsende Selbstbewusstsein für das Erreichte in einem bis dato so ereignisreichen wie labilen Leben. [MvL]



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Ernst Ludwig Kirchner
Unser Haus, 1918-1922.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 500.000
Ergebnis:
€ 1.645.000

(inkl. Käuferaufgeld)