228
Ernst Ludwig Kirchner
Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch / Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin), 1908/1910.
Gouache sowie Pastell und Kreide
Schätzung:
€ 200.000 Ergebnis:
€ 487.500 (inkl. Käuferaufgeld)
Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch / Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin). 1908/1910.
Gouache sowie Pastell und Kreide.
Mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570b) und der handschriftlichen Registriernummer "FS Dre/Bg 60". Auf Zeichenpapier. 60,5 x 49,5 cm (23,8 x 19,4 in), Blattgröße.
[SM].
• In Fehmarn malt Kirchner diese leuchtende Gouache „Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch“ in kühner Farbgebung.
• Ein heiteres Bild von einer entspannten Begegnung mit einer begehrenswerten Frau, seinem Modell.
• Mit kurzen, nahezu klar abgegrenzten Farbstrichen lässt Kirchner eine sommerliche, lichtdurchflutete Atmosphäre entstehen.
Die Arbeit ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, registriert.
PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers.
Galerie Nierendorf, Berlin (seit 1966).
Sammlung Olbricht, Essen.
AUSSTELLUNG:
"Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch":
E.L. Kirchner. A retrospective exhibition by Donald E. Gordon, Seattle, Pasadena, Boston, 1968-1969, Kat. 74.
Das Aquarell der Brücke, Brücke Museum, Berlin, 5.9.-16.11.1975, Kat. 29.
Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Nationalgalerie, Berlin/ Haus der Kunst, München/Museum Ludwig, Köln/Kunsthaus Zürich, 1979/1980, Kat. 9.
100 Jahre Kunst im Aufbruch. Die Berlinische Galerie zu Gast in Bonn, Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, u.a. 1998/2000, Kat. 318.
Ernst Ludwig Kirchner, Galerie Nierendorf, Berlin, 7.4.-8.9.2006, Kat. 3/a.
"Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin)":
Ernst Ludwig Kirchner. Galerie Nierendorf, Berlin, 7.4.-8.9.2006, Kat. 3/b.
Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein, Sprengel Museum Hannover, 29.8.2010-9.12011/Stiftung Moritzburg/Halle, 6.2.-1.5.2011, Nr. 66.
Der böse Expressionismus. Trauma und Tabu, Bielefeld, Kunsthalle, 11.11.2017-11.03.2018, Kat. 52.
Ernst Ludwig Kirchner, Gerhard Richter und Jonas Burgert, me Collectors Room, Berlin, 11.9. - 3.11.2019.
LITERATUR: Günter Krüger, Die Künstlergemeinschaft Brücke und die Schweiz, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Berlin 1980, S.131-161, Abb. 22.
Gunther Thiem, Emy Schmidt-Rottluff - Ihre Bildnisse und meine Erinnerungen, in: Frauen in Kunst und Leben der Brücke, Brücke Almanach 2000, 2000, S. 81-92, Abb. 2.
Gouache sowie Pastell und Kreide.
Mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570b) und der handschriftlichen Registriernummer "FS Dre/Bg 60". Auf Zeichenpapier. 60,5 x 49,5 cm (23,8 x 19,4 in), Blattgröße.
[SM].
• In Fehmarn malt Kirchner diese leuchtende Gouache „Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch“ in kühner Farbgebung.
• Ein heiteres Bild von einer entspannten Begegnung mit einer begehrenswerten Frau, seinem Modell.
• Mit kurzen, nahezu klar abgegrenzten Farbstrichen lässt Kirchner eine sommerliche, lichtdurchflutete Atmosphäre entstehen.
Die Arbeit ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, registriert.
PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers.
Galerie Nierendorf, Berlin (seit 1966).
Sammlung Olbricht, Essen.
AUSSTELLUNG:
"Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch":
E.L. Kirchner. A retrospective exhibition by Donald E. Gordon, Seattle, Pasadena, Boston, 1968-1969, Kat. 74.
Das Aquarell der Brücke, Brücke Museum, Berlin, 5.9.-16.11.1975, Kat. 29.
Ernst Ludwig Kirchner 1880-1938, Nationalgalerie, Berlin/ Haus der Kunst, München/Museum Ludwig, Köln/Kunsthaus Zürich, 1979/1980, Kat. 9.
100 Jahre Kunst im Aufbruch. Die Berlinische Galerie zu Gast in Bonn, Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, u.a. 1998/2000, Kat. 318.
Ernst Ludwig Kirchner, Galerie Nierendorf, Berlin, 7.4.-8.9.2006, Kat. 3/a.
"Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin)":
Ernst Ludwig Kirchner. Galerie Nierendorf, Berlin, 7.4.-8.9.2006, Kat. 3/b.
Der Blick auf Fränzi und Marcella. Zwei Modelle der Brücke-Künstler Heckel, Kirchner und Pechstein, Sprengel Museum Hannover, 29.8.2010-9.12011/Stiftung Moritzburg/Halle, 6.2.-1.5.2011, Nr. 66.
Der böse Expressionismus. Trauma und Tabu, Bielefeld, Kunsthalle, 11.11.2017-11.03.2018, Kat. 52.
Ernst Ludwig Kirchner, Gerhard Richter und Jonas Burgert, me Collectors Room, Berlin, 11.9. - 3.11.2019.
LITERATUR: Günter Krüger, Die Künstlergemeinschaft Brücke und die Schweiz, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für Kunstwissenschaft, Berlin 1980, S.131-161, Abb. 22.
Gunther Thiem, Emy Schmidt-Rottluff - Ihre Bildnisse und meine Erinnerungen, in: Frauen in Kunst und Leben der Brücke, Brücke Almanach 2000, 2000, S. 81-92, Abb. 2.
Sein Studienaufenthalt 1904 an der Akademie in München, der Besuch von Ausstellungen dort, wird ihn ebenso prägen wie Reisen nach Berlin, Aufenthalte auf der Insel Fehmarn, später mit Otto Mueller in Böhmen. Doch bis zu seinem Umzug nach Berlin im Herbst 1911 ist Kirchner zumeist anwesend in Dresden. Ausgehend von einer frühen Orientierung an Farben und Pinselduktus der Neoimpressionisten und van Goghs Malerei, lassen Kirchners Bilder von Stadt und Landschaft die Tendenz erkennen, die von dem Gesehenen ausgelösten Empfindungen darzustellen – sowohl in formaler Hinsicht als auch in Bezug auf die Farbwahl. Kurze, nervös gesetzte Pinselstriche sowie die Verwendung reiner, leuchtender Farben ergeben eine Übersteigerung des Motivs. Die ehedem noch sehr kleinteiligen, vielfarbigen Pinselstriche sind nun einer flächigeren Malweise gewichen, starke Farbakzente setzt er in einfarbigen Flächen kontrastvoll gegeneinander. Eine veränderte Grundstimmung nicht nur in Kirchners Kunst. In Reaktion auf die Farbstürme der Fauves übersteigert auch er naturgebundene Farbigkeit, wie hier in der Wiedergabe Emys.
Den Sommer 1908 mit Emy auf Fehmarn
Hans Frisch, fünf Jahre jünger als Ernst Ludwig Kirchner und Jugendfreund seit der Schulzeit in Chemnitz, arbeitet 1905 am Dresdner Völkerkundemuseum. Er ist ein vielseitig interessierter junger Mann, malt mit den „Brücke"-Künstlern, schreibt, dichtet und wird später passives Mitglied. Seine um ein Jahr ältere Schwester Emy, die spätere Fotografin Emy Leonie Frisch, kennt Kirchner ebenfalls aus gemeinsamen Schultagen in Chemnitz. 1892 erhält der Vater Ernst Ludwig Kirchners den Ruf als Professor an die Technische Lehranstalt und Gewerbeakademie in Chemnitz; die Familie kommt aus Aschaffenburg und zieht um. Nach ersten freundschaftlichen Episoden mit den Modell-Freundinnen Line und Isabella wird Emy nun Kirchner nicht nur als Modell, sondern auch als Lebensgefährtin begleiten. Darstellungen von ihr finden sich in ersten Skizzenbüchern, 1908 radiert der Künstler ein die Platte nahezu füllendes Selbstbildnis mit Pfeife; ein stehender Akt im Hintergrund erscheint wie ein körperhafter Gedanke, es dürfte wohl Emy sein. Mit seiner Muse reist Kirchner in Begleitung von Hans Frisch das erste Mal nach Fehmarn. Sie beziehen eine Unterkunft in einem Bauernhaus in Burg; viele Skizzen und Gemälde entstehen während des Aufenthalts und dokumentieren die Erkundung der Insel. Für unsere Gouache ist eine Tusche-Vorarbeit zu dem Gemälde „Frauenbildnis in weißem Kleid (Emy Frisch)“ wichtig, das die Freundin in einem weißen Kleid mit Strohhut zeigt vor Sträuchern und Schilf, der Blick hindurch zeigt das offene Meer. Im Hintergrund sitzt ein Mann mit Hut, vermutlich der Bruder Hans. Ist der Strich in Kirchners Zeichnungen schon fest und sicher, so experimentiert er hier noch zwischen Impressionismus und Pointillismus, lässt mit kurzen, nahezu klar abgegrenzten Farbstrichen eine sommerliche, lichtdurchflutete Atmosphäre entstehen. In Fehmarn malt Kirchner auch diese leuchtende Gouache „Emy Frisch mit großem Hut“ in kühner Farbgebung. Vor einem nicht näher zu lokalisierenden, wie die Lehne eines Diwans geschwungenen violettroten Stoff sitzt Emy mit einer knallroten Bluse und blauem Rock, leicht nach rechts geneigt, auf den rechten Unterarm aufgestützt. Ihr Gesicht ist sonnengebräunt, auf dem Kopf trägt sie einen breitkrempigen Strohhut, leicht in den Nacken geschoben, der das weich in die Stirn fallende Haar sichtbar werden lässt. Ein gelbes Hutband lässt Kirchner in das Blau des Himmels wehen und unterstreicht die Leichtigkeit einer harmonisierenden Dynamik in den deutlich gesetzten Akzenten der Farbmischung respektive Gegenüberstellung: Es ist ein heiteres Bild von einer entspannten Begegnung mit einer begehrenswerten Frau, seinem Modell.
Nach dem Aufenthalt auf Fehmarn trübt sich die Verbindung zu Emy. Man trifft sich bisweilen in Berlin, Postkarten an Erich Heckel bezeugen Begegnungen, Kirchner sieht Emy Frisch mehrfach. Er besucht am 27. November 1909 die Eröffnung der XIX. Ausstellung „Zeichnende Künste“ der Berliner Secession, auf der er zusammen mit Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff vertreten ist. Kurz berichtet er Erich Heckel von der Absicht, in Dangast ein Haus zu kaufen, und fügt hinzu: „Emy scheint dagegen zu sein“ (zit. nach: Gerd Presler, E. L. Kirchner, Seine Frauen, seine Modelle, seine Bilder, München/New York 1998, S. 10.). Kirchner bemerkt, wie Emy sich Karl Schmidt-Rottluff zuwendet und später dessen Frau wird. Für Kirchner ein kaum zu ertragendes Erlebnis.
"Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin)" von 1910 – Zur Rückseite der Gouache „Dame mit großem Hut, Emy Frisch“ von 1908
- Kirchner versteht es mit seinem raschen Zeichenstil eine monumentale Atelierszene zu schaffen, in der sich die Modelle wie selbstverständlich aufhalten und Kirchner zu zeichnerischer Höchstleistung anregen.
- Der stehende Akt lässt sich zweifelsfrei als Fränzi (Marzella) identifizieren, sie bindet sich einen Zopf und befestigt um das Ende gerade die für sie charakteristische Schleife.
- Kirchner zeichnet und malt Fränzi und nennt sie Marzella.
Auf der Rückseite der einzigartigen, sehr verliebt wirkenden Hommage an Emy Frisch entdecken wir ein Ereignis, das Kirchner doch eine Weile später, 1910 in seinem Dresdner Atelier in der Berliner Straße 80, wohin er Anfang des Jahres zieht, festhält. Er verbannt damit sozusagen das Porträt von 1908 emotional, ohne es aber zu zerstören oder gar zu übermalen, was durchaus passieren kann. Vor einem von Kirchner bemalten Stellschirm mit blau gefasster Bordüre um ein grünliches Binnenfeld, auf dem der Künstler Figuren und Tiere sowie hieroglyphenartige Ornamente schattenrissartig zitiert, stehen beziehungsweise sitzen zwei nackte Modelle.
Der stehende Akt lässt sich zweifelsfrei als Fränzi (Marzella?) identifizieren, sie bindet sich einen Zopf und befestigt um das Ende gerade die für sie charakteristische Schleife. Ihr Blick aus dem ausgeprägten Gesicht, mit breit angelegter Stirn und spitz zulaufendem Kinn, fixiert wohl Kirchner, der dem Geschehen gegenübersitzt. Das zweite Modell kauert in sich gesunken auf einem Klappstuhl mit hoher Rückenlehne, der ebenso wie der Paravent in vielen Atelierszenen die Aktionsfläche bildet. Wer ist wohl das Modell, das, die Beine angewinkelt, seitlich auf dem Stuhl sitzt und etwas teilnahmslos in den Raum blickt? Ist das Marzella? Die ältere Schwester von Lina Franziska (Fränzi) Fehrmann, die nach neueren Recherchen in Dresden nie existiert hat? Wer ist die 12-jährige Freundin von Fränzi und deren ältere Schwester, von der Kirchner an Heckel in einem Brief wohl im April 1910 schreibt und hier auch von Marzella berichtet: „Hier ist es auch jetzt ganz gut. Marzella ist jetzt ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge. Wir sind ganz vertraut geworden, liegen auf dem Teppich und spielen.“ Sind die Freundin und ihre ältere Schwester ebenso Artistinnen, etwa Mitglieder des in Dresden gastierenden Zirkus Sarrasani?
Marzella ist Fränzi und Fränzi ist Marzella
Die neuere Forschung zu den Modellen stellen Bisheriges in Frage und geben zur Diskussion, ob etwa Darstellungen „Fränzis“ durchaus auch jene „Marzellas“ sein könnten. „Auch ist nicht immer sicher, ob es sich wirklich um Darstellungen von Fränzi handelt. So ist zum Beispiel das Mädchen Marzella, ebenfalls ein kindliches Modell, häufig mit der gleichen Frisur, den Schleifen im Haar und dem gleichen spitz zulaufenden Gesicht wiedergegeben.“ Dies würde auch eine Vermischung der Namen „Fränzi“ und „Marzella“ für identische Bilder durch die "Brücke"-Künstler selbst erklären helfen. Das vielleicht berühmteste Bildnis „Marzellas“ malt Kirchner 1910 in seinem Atelier und zeigt eben jene ikonografischen Details, die auf Fränzi hinweisen: das Gesicht mit dem spitz zulaufenden Kinn und die Schleife im Haar. Dieses Gesicht, die Schleife mögen noch so rasch skizziert oder wie hier in gewisser Konzentration gemalt sein: Fränzi ist für Kirchner – so scheint es – Marzella: Sie ist immer identifizierbar. Übrigens in der wohl wichtigsten Publikation der "Brücke"-Künstler zur Ausstellung in der Dresdner Galerie Arnold 1910 fertigt Heckel einen Holzschnitt nach Kirchners Gemälde, das dort erstmals ausgestellt ist und in der Liste der ausgestellten Werke Kirchners unter der Nummer 25 aufgeführt ist: „Marzella [Akt]"! Mit dieser Ausstellung präsentiert Kirchner ein weiteres Gemälde mit einem jugendlichen Modell und vergibt den Titel „Artistin“, es hängt heute im Brücke-Museum, Berlin. Könnte es sich hierbei um das in dieser Zeichnung hier auf dem Klappstuhl sitzende Modell handeln? Vermutlich ja. Kirchner berichtet an Heckel von einer 12-jährigen Freundin Fränzis und deren ältere Schwester mit 15. Sind es die Artisten-Kinder aus dem Zirkus Sarrasani?
Unabhängig wer nun neben Fränzi die ‚Nebenrolle’ einnimmt, Kirchner versteht es mit seinem raschen Zeichenstil eine monumentale Atelierszene zu schaffen, in der sich die Modelle wie selbstverständlich aufhalten und Kirchner zu zeichnerischer Höchstleistung anregen. Kirchners Arbeiten auf Papier zeigen Ungeduld, sie wirken zerrissen, aber gleichzeitig verbindet eine Linie, ein Bogen wieder das Motiv. Kirchners Arbeiten auf Papier sind eruptiv - eruptiv wie ein Erdbeben, und sie sind erotisch. Seine Arbeiten zeigen Verletztheit, und sie zeigen Trauer, sie zeigen sich sensibel, verkörpern viel Zuneigung. Kirchners Arbeiten auf Papier spiegeln sein Leben, die Orte seines exzessiven Lebens. Einer dieser Orte oder besser Bühne für Kirchners Arbeiten ist sein erstes bescheidenes Atelier in Dresden: „So bezog ich mit einigen Kisten, einem Feldbett und meinem Werkzeug einen verlassenen Fleischerladen im Proletarierviertel Dresdens. Dieser wurde trotz der Armut bald der Treffpunkt der herumwohnenden Mädels des Viertels und so hatte ich die besten Modelle und Freundinnen, mit denen ich nach Moritzburg ging, um im Freien zu malen“. Sein Atelier, ein Ladenlokal in der Berliner Straße 60, dekoriert er mit gebatikten Vorhängen und Paravents mit Darstellungen ‚barbarischer‘ Liebespaare, baut sich Möbel, schnitzt Geschirr und Accessoires. Sie bilden immer wieder dekorativen Hintergrund für Atelierszenen. [MvL]
Den Sommer 1908 mit Emy auf Fehmarn
Hans Frisch, fünf Jahre jünger als Ernst Ludwig Kirchner und Jugendfreund seit der Schulzeit in Chemnitz, arbeitet 1905 am Dresdner Völkerkundemuseum. Er ist ein vielseitig interessierter junger Mann, malt mit den „Brücke"-Künstlern, schreibt, dichtet und wird später passives Mitglied. Seine um ein Jahr ältere Schwester Emy, die spätere Fotografin Emy Leonie Frisch, kennt Kirchner ebenfalls aus gemeinsamen Schultagen in Chemnitz. 1892 erhält der Vater Ernst Ludwig Kirchners den Ruf als Professor an die Technische Lehranstalt und Gewerbeakademie in Chemnitz; die Familie kommt aus Aschaffenburg und zieht um. Nach ersten freundschaftlichen Episoden mit den Modell-Freundinnen Line und Isabella wird Emy nun Kirchner nicht nur als Modell, sondern auch als Lebensgefährtin begleiten. Darstellungen von ihr finden sich in ersten Skizzenbüchern, 1908 radiert der Künstler ein die Platte nahezu füllendes Selbstbildnis mit Pfeife; ein stehender Akt im Hintergrund erscheint wie ein körperhafter Gedanke, es dürfte wohl Emy sein. Mit seiner Muse reist Kirchner in Begleitung von Hans Frisch das erste Mal nach Fehmarn. Sie beziehen eine Unterkunft in einem Bauernhaus in Burg; viele Skizzen und Gemälde entstehen während des Aufenthalts und dokumentieren die Erkundung der Insel. Für unsere Gouache ist eine Tusche-Vorarbeit zu dem Gemälde „Frauenbildnis in weißem Kleid (Emy Frisch)“ wichtig, das die Freundin in einem weißen Kleid mit Strohhut zeigt vor Sträuchern und Schilf, der Blick hindurch zeigt das offene Meer. Im Hintergrund sitzt ein Mann mit Hut, vermutlich der Bruder Hans. Ist der Strich in Kirchners Zeichnungen schon fest und sicher, so experimentiert er hier noch zwischen Impressionismus und Pointillismus, lässt mit kurzen, nahezu klar abgegrenzten Farbstrichen eine sommerliche, lichtdurchflutete Atmosphäre entstehen. In Fehmarn malt Kirchner auch diese leuchtende Gouache „Emy Frisch mit großem Hut“ in kühner Farbgebung. Vor einem nicht näher zu lokalisierenden, wie die Lehne eines Diwans geschwungenen violettroten Stoff sitzt Emy mit einer knallroten Bluse und blauem Rock, leicht nach rechts geneigt, auf den rechten Unterarm aufgestützt. Ihr Gesicht ist sonnengebräunt, auf dem Kopf trägt sie einen breitkrempigen Strohhut, leicht in den Nacken geschoben, der das weich in die Stirn fallende Haar sichtbar werden lässt. Ein gelbes Hutband lässt Kirchner in das Blau des Himmels wehen und unterstreicht die Leichtigkeit einer harmonisierenden Dynamik in den deutlich gesetzten Akzenten der Farbmischung respektive Gegenüberstellung: Es ist ein heiteres Bild von einer entspannten Begegnung mit einer begehrenswerten Frau, seinem Modell.
Nach dem Aufenthalt auf Fehmarn trübt sich die Verbindung zu Emy. Man trifft sich bisweilen in Berlin, Postkarten an Erich Heckel bezeugen Begegnungen, Kirchner sieht Emy Frisch mehrfach. Er besucht am 27. November 1909 die Eröffnung der XIX. Ausstellung „Zeichnende Künste“ der Berliner Secession, auf der er zusammen mit Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff vertreten ist. Kurz berichtet er Erich Heckel von der Absicht, in Dangast ein Haus zu kaufen, und fügt hinzu: „Emy scheint dagegen zu sein“ (zit. nach: Gerd Presler, E. L. Kirchner, Seine Frauen, seine Modelle, seine Bilder, München/New York 1998, S. 10.). Kirchner bemerkt, wie Emy sich Karl Schmidt-Rottluff zuwendet und später dessen Frau wird. Für Kirchner ein kaum zu ertragendes Erlebnis.
"Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin)" von 1910 – Zur Rückseite der Gouache „Dame mit großem Hut, Emy Frisch“ von 1908
- Kirchner versteht es mit seinem raschen Zeichenstil eine monumentale Atelierszene zu schaffen, in der sich die Modelle wie selbstverständlich aufhalten und Kirchner zu zeichnerischer Höchstleistung anregen.
- Der stehende Akt lässt sich zweifelsfrei als Fränzi (Marzella) identifizieren, sie bindet sich einen Zopf und befestigt um das Ende gerade die für sie charakteristische Schleife.
- Kirchner zeichnet und malt Fränzi und nennt sie Marzella.
Auf der Rückseite der einzigartigen, sehr verliebt wirkenden Hommage an Emy Frisch entdecken wir ein Ereignis, das Kirchner doch eine Weile später, 1910 in seinem Dresdner Atelier in der Berliner Straße 80, wohin er Anfang des Jahres zieht, festhält. Er verbannt damit sozusagen das Porträt von 1908 emotional, ohne es aber zu zerstören oder gar zu übermalen, was durchaus passieren kann. Vor einem von Kirchner bemalten Stellschirm mit blau gefasster Bordüre um ein grünliches Binnenfeld, auf dem der Künstler Figuren und Tiere sowie hieroglyphenartige Ornamente schattenrissartig zitiert, stehen beziehungsweise sitzen zwei nackte Modelle.
Der stehende Akt lässt sich zweifelsfrei als Fränzi (Marzella?) identifizieren, sie bindet sich einen Zopf und befestigt um das Ende gerade die für sie charakteristische Schleife. Ihr Blick aus dem ausgeprägten Gesicht, mit breit angelegter Stirn und spitz zulaufendem Kinn, fixiert wohl Kirchner, der dem Geschehen gegenübersitzt. Das zweite Modell kauert in sich gesunken auf einem Klappstuhl mit hoher Rückenlehne, der ebenso wie der Paravent in vielen Atelierszenen die Aktionsfläche bildet. Wer ist wohl das Modell, das, die Beine angewinkelt, seitlich auf dem Stuhl sitzt und etwas teilnahmslos in den Raum blickt? Ist das Marzella? Die ältere Schwester von Lina Franziska (Fränzi) Fehrmann, die nach neueren Recherchen in Dresden nie existiert hat? Wer ist die 12-jährige Freundin von Fränzi und deren ältere Schwester, von der Kirchner an Heckel in einem Brief wohl im April 1910 schreibt und hier auch von Marzella berichtet: „Hier ist es auch jetzt ganz gut. Marzella ist jetzt ganz heimisch geworden und entwickelt feine Züge. Wir sind ganz vertraut geworden, liegen auf dem Teppich und spielen.“ Sind die Freundin und ihre ältere Schwester ebenso Artistinnen, etwa Mitglieder des in Dresden gastierenden Zirkus Sarrasani?
Marzella ist Fränzi und Fränzi ist Marzella
Die neuere Forschung zu den Modellen stellen Bisheriges in Frage und geben zur Diskussion, ob etwa Darstellungen „Fränzis“ durchaus auch jene „Marzellas“ sein könnten. „Auch ist nicht immer sicher, ob es sich wirklich um Darstellungen von Fränzi handelt. So ist zum Beispiel das Mädchen Marzella, ebenfalls ein kindliches Modell, häufig mit der gleichen Frisur, den Schleifen im Haar und dem gleichen spitz zulaufenden Gesicht wiedergegeben.“ Dies würde auch eine Vermischung der Namen „Fränzi“ und „Marzella“ für identische Bilder durch die "Brücke"-Künstler selbst erklären helfen. Das vielleicht berühmteste Bildnis „Marzellas“ malt Kirchner 1910 in seinem Atelier und zeigt eben jene ikonografischen Details, die auf Fränzi hinweisen: das Gesicht mit dem spitz zulaufenden Kinn und die Schleife im Haar. Dieses Gesicht, die Schleife mögen noch so rasch skizziert oder wie hier in gewisser Konzentration gemalt sein: Fränzi ist für Kirchner – so scheint es – Marzella: Sie ist immer identifizierbar. Übrigens in der wohl wichtigsten Publikation der "Brücke"-Künstler zur Ausstellung in der Dresdner Galerie Arnold 1910 fertigt Heckel einen Holzschnitt nach Kirchners Gemälde, das dort erstmals ausgestellt ist und in der Liste der ausgestellten Werke Kirchners unter der Nummer 25 aufgeführt ist: „Marzella [Akt]"! Mit dieser Ausstellung präsentiert Kirchner ein weiteres Gemälde mit einem jugendlichen Modell und vergibt den Titel „Artistin“, es hängt heute im Brücke-Museum, Berlin. Könnte es sich hierbei um das in dieser Zeichnung hier auf dem Klappstuhl sitzende Modell handeln? Vermutlich ja. Kirchner berichtet an Heckel von einer 12-jährigen Freundin Fränzis und deren ältere Schwester mit 15. Sind es die Artisten-Kinder aus dem Zirkus Sarrasani?
Unabhängig wer nun neben Fränzi die ‚Nebenrolle’ einnimmt, Kirchner versteht es mit seinem raschen Zeichenstil eine monumentale Atelierszene zu schaffen, in der sich die Modelle wie selbstverständlich aufhalten und Kirchner zu zeichnerischer Höchstleistung anregen. Kirchners Arbeiten auf Papier zeigen Ungeduld, sie wirken zerrissen, aber gleichzeitig verbindet eine Linie, ein Bogen wieder das Motiv. Kirchners Arbeiten auf Papier sind eruptiv - eruptiv wie ein Erdbeben, und sie sind erotisch. Seine Arbeiten zeigen Verletztheit, und sie zeigen Trauer, sie zeigen sich sensibel, verkörpern viel Zuneigung. Kirchners Arbeiten auf Papier spiegeln sein Leben, die Orte seines exzessiven Lebens. Einer dieser Orte oder besser Bühne für Kirchners Arbeiten ist sein erstes bescheidenes Atelier in Dresden: „So bezog ich mit einigen Kisten, einem Feldbett und meinem Werkzeug einen verlassenen Fleischerladen im Proletarierviertel Dresdens. Dieser wurde trotz der Armut bald der Treffpunkt der herumwohnenden Mädels des Viertels und so hatte ich die besten Modelle und Freundinnen, mit denen ich nach Moritzburg ging, um im Freien zu malen“. Sein Atelier, ein Ladenlokal in der Berliner Straße 60, dekoriert er mit gebatikten Vorhängen und Paravents mit Darstellungen ‚barbarischer‘ Liebespaare, baut sich Möbel, schnitzt Geschirr und Accessoires. Sie bilden immer wieder dekorativen Hintergrund für Atelierszenen. [MvL]
228
Ernst Ludwig Kirchner
Sitzende mit großem Hut, Emy Frisch / Szene im Atelier (Fränzi (Marzella) und Artistin), 1908/1910.
Gouache sowie Pastell und Kreide
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