Auktion: 424 / Klassische Moderne am 11./13.06.2015 in München Lot 228

 

228
Hermann Max Pechstein
Im Freien, 1920.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 300.000
Ergebnis:
€ 612.500

(inkl. Käuferaufgeld)
Im Freien. 1920.
Öl auf Leinwand, doubliert.
Soika 1920/29. Links unten monogrammiert und datiert. Auf dem Keilrahmen mit rotem Farbstift signiert. 70 x 80 cm (27,5 x 31,4 in).
Das vorliegende Gemälde ist mit einem Eintrag im Werkstattbuch für das Jahr 1920 als Nummer 24 dokumentiert. Da die Arbeit auf der Abbildung im Ausstellungskatalog der Galerie Goyert, Köln, aus dem Jahr 1921 noch nicht monogrammiert und datiert ist, ist davon auszugehen, dass Pechstein das Monogramm und die Datierung nachträglich ausgeführt hat. Ursprünglich war die Leinwand verso signiert, betitelt und datiert, was heute durch die nach 1956 ausgeführte Doublierung verdeckt ist. [KD/JS].
Ausdrucksstarke, dichte Komposition aus der besten Schaffenszeit des Künstlers. Andere expressive Figurenkompositionen aus dem Jahr 1920 befinden sich in bedeutenden öffentlichen Sammlungen, wie der des Folkwang Museums, Essen (Soika 1920/27), des Kunstmuseums Luzern (Soika 1920/30 und 37) und der Albertina Wien (Soika 1920/36).

PROVENIENZ: Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, 25. Auktion, 27./28. November 1956, Kat.-Nr. 736 (dort noch als "Rückseitig betitelt, datiert und signiert" verzeichnet).
Galerie Änne Abels, Köln (ca. 1957-1959; auf dem Keilrahmen mit dem Etikett "Kunstsalon Abels / Köln / Stadtwaldgürtel 32").
Privatsammlung (Ende der 1950er Jahre beim Vorgenannten erworben, bis 1999 in Familienbesitz).
Sotheby's, London, German & Austrian Art, 6. Oktober 1999, Kat.-Nr. 150.
Galerie Maulberger, München (2000).
Privatsammlung Deutschland (seit 2000).

AUSSTELLUNG: H. M. Pechstein und Rudolf Belling, Galerie Goyert, Köln, Februar-März 1921, Drittes Buch der Galerie, Nr. 23 (mit s/w-Abb. S. 24, auf dieser Abbildung noch ohne Monogramm und Datierung).

Nach den Entbehrungen des Ersten Weltkrieges findet Max Pechstein schnell zu künstlerischer Tatkraft zurück. Auch jetzt, in der Nachkriegszeit, liefert die Landschaft um das Fischerdorf Nidden die wesentlichen Impulse zu neuer Kreativität. Die expressive Stärke von Pechsteins Figurenkompositionen liegt nun in der Schärfe der Kontur, wie sie auch die vorliegende Leinwand beherrscht und strukturiert. Durch die meisterhafte Kombination der menschlichen Figur mit einer von den Gezeiten gezeichneten Landschaft gelingt Pechstein hier eine spannungsvolle und dynamisch bewegte Komposition. Die starken Farbakzente von Blau und Grün, von Pechstein selbst als die typischen Farben der \cf3 Kurischen Nehrung bezeichnet, treten mit Weiß und rötlichem Braun in ein kraftvolles Wechselspiel. In seinen Briefen dieser Zeit berichtet Pechstein noch immer von der Sehnsucht nach der Südsee, die er vor dem Ersten Weltkrieg bereist hatte. Etwas von dieser Sehnsucht mag man auch in der ungezwungenen Art dieser Komposition sehen.
Im "Malerparadies"
Schon seit dem 19. Jahrhundert suchen viele Künstler die ländliche Abgeschiedenheit. Im Expressionismus erlebt diese Tradition einen kraftvollen "zweiten Frühling": Erst durch den unmittelbaren Kontakt mit der Natur finden bahnbrechende Ideen ihre Gestalt.
Die Umgebung von Nidden, ein einsamer Streifen kiefernbestandener Wanderdünen zwischen Kurischem Haff und Ostsee, wird Pechsteins erklärtes "Malerparadies" (zit. nach Aya Soika, Max Pechstein. Das Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. 1, München 2011, S. 31).
Wie die Niddener Maler vor ihm, so ist auch Pechstein fasziniert vom eigentümlichen Licht und der Urtümlichkeit dieser Landschaft. Hier sieht er sich am Ziel einer langen Suche: nach Freiheit, nach Ursprünglichkeit, nach der Einheit von Kunst und Leben.
An diesem Sehnsuchtsort entsteht im Sommer 1920 unser Werk. "Im Freien" lautet der Titel bereits in Pechsteins Werkstattbuch. Und dieses "Freie" darf sowohl räumlich als auch geistig verstanden werden - als Hinweis auf die Freiheit, die Nidden für Pechstein bedeutet.
"… dann strömt es über den Kopf"
Als Pechstein unser Bild malt, befindet er sich in einem wahren Schaffensrausch. Nach einigen Monaten ohne rechte Inspiration gerät er geradezu in Ekstase; sein Kopf "raucht von den zu malenden Dingen". An Paul Fechter schreibt er aus Nidden:
"Steckt man erst mal wie ich jetzt wieder im Vollen, dann strömt es über den Kopf, und man muß an sich halten um nicht die Besinnung zu verlieren. Malen ist ein verdammt feines Laster."
Zit. nach Aya Soika, Max Pechstein. Das Werkverzeichnis der Ölgemälde, Bd. 1, München 2011, S. 39.
In der zielsicheren Komposition von "Im Freien" wird die kreative Wucht dieses Sommers deutlich spürbar.
Ein Familienbild?
Pechstein ist nicht alleine in der Niddener Sommerfrische. Seine Frau Lotte und sein gerade siebenjähriger Sohn Frank sind hier seine liebsten Modelle, auf manchen Bildern begleitet von einer zweiten Frau, dem Kindermädchen Anna Gärtner.
Einiges spricht dafür, dass auch unser Werk diese drei Figuren zeigt: Der Knabe entspricht in Alter und Gewandung dem Sohn (Abb. 4, vgl. Soika 1919/74v, 1920/32), die links stehende Frau erinnert mit dem tief ansetzenden, dunklen Haar an Lotte. Zugleich stilisiert Pechstein sie - ein Leitmotiv seines Schaffens - als Personifikation des Mütterlichen: ovoide Außenkontur, die Hände vor dem Schoß, gleichsam verschmolzen mit dem fruchtbaren Grün einer festen Kiefer. Die zweite Frau dagegen, Gegenpol zur kontemplativen Mutterfigur, ist dem Knaben aktiv zugewiesen und könnte auf Anna Gärtner hinweisen.
Unabhängig von der Identifikation der Figuren erscheint „Im Freien“ wie ein Familienbild in der Natur - eine scheinbar alltägliche Szenerie.
Alltag und Mysterium
Gezielt sucht Pechstein in „Im Freien“ den Bezug auf das Alltägliche, ja Bäuerliche. Von fern mag man sogar an Millets berühmte „Ährenleserinnen“ denken.
Sicher kein Zufall: In der Arbeit der einfachen Landbevölkerung, ein Lieblingsmotiv Pechsteins in diesen Sommern, offenbart sich nichts weniger als ein Ideal. Hier erkennt Pechstein, ebenso wie viele seiner Zeitgenossen, wahrhaftes Leben im Einklang mit der Natur, nahe an jenem Ursprung, dem der moderne Mensch entfremdet ist.
Der Knabe in unserem Bild aber beugt nicht den Rücken, um ein Feld zu bestellen. Er macht vielmehr eine Entdeckung, die auch die Frauen interessiert ins hohe Gras blicken lässt.
Doch was ist es, was das Kind sieht? Pechstein lässt den Betrachter bewusst im Unklaren, erhebt die Entdeckung damit zum Mysterium.
Ganz ähnlich wie in der religiös anmutenden „Meererzählung“ desselben Sommers ist es auch in unserem Bild der Knabe, der mehr weiß als die beiden Frauen: Er entdeckt das Geheimnis.



228
Hermann Max Pechstein
Im Freien, 1920.
Öl auf Leinwand
Schätzung:
€ 300.000
Ergebnis:
€ 612.500

(inkl. Käuferaufgeld)