19
Louis Soutter
Ceux qui récoltent (Jene, die ernten), 1940/41.
Öl und Druckerschwärze, Fingermalerei
Schätzung:
€ 120.000 Ergebnis:
€ 152.400 (inklusive Aufgeld)
Ceux qui récoltent (Jene, die ernten). 1940/41.
Öl und Druckerschwärze, Fingermalerei.
Thévoz 2567. Links oben in der Darstellung betitelt. Verso monogrammiert, datiert "1940/1941", betitelt und bezeichnet. Auf festem, chamoisfarbenen Zeichenpapier. 44 x 58,5 cm (17,3 x 23 in), Blattgröße. [JS].
• Zu Lebzeiten verkannt, gilt Soutters in der Einsamkeit der Heimanstalt Ballaigues geschaffenes, vom Geist des Schmerzes durchdrungenes Werk als spektakuläre Entdeckung.
• Soutters rauschhaft in Fingermalerei ausgeführten, rätselhaften Schattenfiguren der letzten Werkphase entführen uns in eine künstlerische Parallelwelt, die an Platons Schattengestalten und mittelalterliche Totentänze erinnert und sowohl stilistisch als auch technisch ihrer Zeit voraus ist.
• Bereits 1981/82 Teil der ersten großen Einzelausstellung im Lenbachhaus München und im Kunstmuseum Bonn.
• Seit fast 30 Jahren Teil einer englischen Privatsammlung.
• Vergleichbare Arbeiten befinden sich in bedeutenden internationalen Sammlungen, darunter das Museum of Modern Art, New York, das Kunstmuseum Basel, und die Fondation Le Corbusier, Paris.
PROVENIENZ: J.-J. Rivoire, Genf.
Galerie M. Knoedler, Zürich (1981/82).
Privatbesitz.
Galerie Michael Haas, Berlin.
Privatsammlung Großbritannien (1994 vom Vorgenannten erworben, seither in Familienbesitz).
AUSSTELLUNG: Louis Soutter. Werke von 1923 bis 1942. Eröffnungsausstellung der M. Knoedler Zürich AG, 27.11.1981-23.1.1982, Kat.-Nr. 76 (m. Abb.).
Louis Soutter (1871-1942). Zeichnungen, Bücher, Fingermalereien, hrsg. v. Armin Zweite, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 17.4.-9.6.1985; Kunstmuseum Bonn, 26.6.-11.8.1985; Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 22.8.-13.10.1985, S. 242, Kat.-Nr. 278 (m. SW-Abb.).
LITERATUR: Armin Zweite (Hrsg.), Louis Soutter (1871-1942). Zeichnungen, Bücher, Fingermalereien, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 17.4.-9.6.1985; Kunstmuseum Bonn, 26.6.-11.8.1985; Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 22.8.-13.10.1985, S. 242, Kat.-Nr. 278 (m. SW-Abb.).
"Ich bin entschlossen zu malen und zu leiden!!"
Louis Soutter, 1937 an seinen Malerkollegen Marcel Poncet.
"Keine Fenster mehr, diese unnützen Augen. Herausschauen, warum? Es bringt Verwirrung [..]. Meine Zeichnungen möchten nur eins sein, einmalig und vom Geist des Schmerzes durchdrungen."
Louis Soutter, zit. nach: Le Corbusier, Louis Soutter, ein Unbekannter, erschienen im Minotaure, 1936.
Öl und Druckerschwärze, Fingermalerei.
Thévoz 2567. Links oben in der Darstellung betitelt. Verso monogrammiert, datiert "1940/1941", betitelt und bezeichnet. Auf festem, chamoisfarbenen Zeichenpapier. 44 x 58,5 cm (17,3 x 23 in), Blattgröße. [JS].
• Zu Lebzeiten verkannt, gilt Soutters in der Einsamkeit der Heimanstalt Ballaigues geschaffenes, vom Geist des Schmerzes durchdrungenes Werk als spektakuläre Entdeckung.
• Soutters rauschhaft in Fingermalerei ausgeführten, rätselhaften Schattenfiguren der letzten Werkphase entführen uns in eine künstlerische Parallelwelt, die an Platons Schattengestalten und mittelalterliche Totentänze erinnert und sowohl stilistisch als auch technisch ihrer Zeit voraus ist.
• Bereits 1981/82 Teil der ersten großen Einzelausstellung im Lenbachhaus München und im Kunstmuseum Bonn.
• Seit fast 30 Jahren Teil einer englischen Privatsammlung.
• Vergleichbare Arbeiten befinden sich in bedeutenden internationalen Sammlungen, darunter das Museum of Modern Art, New York, das Kunstmuseum Basel, und die Fondation Le Corbusier, Paris.
PROVENIENZ: J.-J. Rivoire, Genf.
Galerie M. Knoedler, Zürich (1981/82).
Privatbesitz.
Galerie Michael Haas, Berlin.
Privatsammlung Großbritannien (1994 vom Vorgenannten erworben, seither in Familienbesitz).
AUSSTELLUNG: Louis Soutter. Werke von 1923 bis 1942. Eröffnungsausstellung der M. Knoedler Zürich AG, 27.11.1981-23.1.1982, Kat.-Nr. 76 (m. Abb.).
Louis Soutter (1871-1942). Zeichnungen, Bücher, Fingermalereien, hrsg. v. Armin Zweite, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 17.4.-9.6.1985; Kunstmuseum Bonn, 26.6.-11.8.1985; Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 22.8.-13.10.1985, S. 242, Kat.-Nr. 278 (m. SW-Abb.).
LITERATUR: Armin Zweite (Hrsg.), Louis Soutter (1871-1942). Zeichnungen, Bücher, Fingermalereien, Ausst.-Kat. Städtische Galerie im Lenbachhaus, München, 17.4.-9.6.1985; Kunstmuseum Bonn, 26.6.-11.8.1985; Württembergischer Kunstverein, Stuttgart, 22.8.-13.10.1985, S. 242, Kat.-Nr. 278 (m. SW-Abb.).
"Ich bin entschlossen zu malen und zu leiden!!"
Louis Soutter, 1937 an seinen Malerkollegen Marcel Poncet.
"Keine Fenster mehr, diese unnützen Augen. Herausschauen, warum? Es bringt Verwirrung [..]. Meine Zeichnungen möchten nur eins sein, einmalig und vom Geist des Schmerzes durchdrungen."
Louis Soutter, zit. nach: Le Corbusier, Louis Soutter, ein Unbekannter, erschienen im Minotaure, 1936.
Flucht in die Fantasie – Soutters psychogrammatische Bildwelt
Geheimnisvoll, rätselhaft, schmerzerfüllt, verstörend, kraftvoll und immer wieder faszinierend ist Soutters psychogrammatische Bildwelt, die er in den schwarz-weißen Fingermalereien seiner letzen Schaffensphase vor uns ausbreitet. Sie scheinen – einem Tagebuch gleich – Soutters verletzliches Innerstes nach außen zu kehren, seine Ängste und Fantasien geradezu rauschhaft niedergeschrieben vor uns auszubreiten. Dieser tiefe, intime malerische Seeleneinblick verstört und fesselt gleichermaßen. Laut Michel Thévoz lässt sich die Phase der großformatigen Fingermalerein auf die Jahre 1937 bis 1942, Soutters Todesjahr, eingrenzen. Davor entstehen in der Einsamkeit seines Zimmers der schweizerischen Heimanstalt Ballaigues zunächst Bleistift- und Tuschfederzeichnungen in feiner Lineatur und in floral-ornamentalem, anschließend in manieristischem Stil, mit denen er Schulhefte über und über anfüllt und mit denen er beginnt, sich seine Qualen von der Seele zu malen. Soutters Großcousin, der berühmte Architekt Le Corbusier, hat Soutter 1927 erstmals in Ballaigues besucht und sich in den Folgejahren intensiv für die Anerkennung seines einzigartigen Schaffens eingesetzt. 1936, also bereits vor Beginn der Fingermalereien, hat Le Corbusier die besondere Innerlichkeit von Soutters Schaffen in der Zeitschrift "Minotaure" wie folgt beschrieben: "'Keine Fenster mehr, diese unnützen Augen..' er hat gelernt, ins Innere zu schauen. Durch ihn können wir in einen Menschen hineinsehen. Er [..], der durch allen Luxus des Reichtums und durch ein Leben voller Einsicht hindurchgegangen ist, und der heute [..] jeden Tag ein weißes Blatt mit jenen strengen, starken und bewunderungswürdigen Kompositionen bedeckt, wenn er aus dem traurigen Speisesaal zurück in sein Zimmer kommt." (zit. nach: Michel Thévoz, L. Soutter, 1970, S. 118). Le Corbusier ist es auch zu verdanken, dass Soutters Arbeiten bereits zu Lebzeiten in Amerika ausgestellt werden, und er verschafft seinem Cousin fortan Zugang zu geeignetem Zeichenmaterial, wie großformatiges Papier, Kohle, Tusche und Gouache. Soutters Œuvre, das sich nach seinem Tod 1942 nahezu geschlossen in seinem kleinen Heimzimmer auftürmt, welches für die letzten 19 Jahre seine ganze Welt war, zeigt nicht nur eine stilistisch progressive künstlerische Parallelwelt, sondern dokumentiert darüber hinaus den technisch ebenso bedeutenden Schritt: Mit den ab 1937 entstehenden Fingermalereien, zu denen auch die vorliegende Komposition "Ceux qui récoltent" gehört, nimmt Soutter eine technische Errungenschaft der späteren Aktionskunst vorweg und verleiht seinen Arbeiten damit eine einzigartig unmittelbare Aura.
Verkannt, vereinsamt, vergessen und postum wiederentdeckt – Zur späten kunsthistorischen Würdigung eines spektakulären Œuvres
Soutters tragischer Lebensweg ist ein fesselndes und verstörendes Zeugnis des Scheiterns. Der als zweites Kind einer großbürgerlichen schweizerischen Apothekerfamilie geborene Künstler gilt nach vielversprechenden Anfängen bald als Sonderling, der den Ansprüchen an eine bildungsbürgerliche Existenz nicht zu entsprechen vermag. Zunächst eröffnet der Wohlstand Raum zum Experimentieren: Soutter nimmt ein Studium der Ingenieurwissenschaften auf, wechselt dann zur Architektur und bricht auch dies ab, um sich fortan der Violine zu widmen. Mit 21 Jahren wird er Schüler von Eugène Ysaÿe, Professor am Königlichen Konservatorium in Brüssel, Geigenvirtuose und Komponist. Ysaÿe ist eine wichtige, positive Figur in Soutters Leben und fördert dessen außergewöhnliches musisch-künstlerisches Talent. Soutter bricht aber auch bald sein Musikstudium ab, um zunächst in Lausanne und später dann in Paris verschiedene Kunst- und Malereiklassen zu besuchen. 1897 wandert Soutter schließlich mit der reichen amerikanischen Violinistin Magde Fursman, die er in Brüssel kennenlernt hatte und die bald seine Frau werden sollte, nach Colorado Springs aus. Dort wird er Leiter des neu gegründeten Art Department am Colorado College. Nur kurz aber währt dieser vermeintlich gefestigte Moment in Soutters Leben, denn auch dieser Schritt endet schnell im Bruch und verfestigt privat und beruflich eine Geschichte des Scheiterns: 1903 kommt es zur Scheidung und zum Rücktritt von der College-Leitung. Soutter kehrt als gebrochener Mann in die Schweiz zurück. Der exzentrische Dandy hält sich bald nur noch mit Gelegenheitsjobs über Wasser und lebt auf Kosten der Familie über seine Verhältnisse. Soutter wird schließlich von seiner Familie unter Vormundschaft gestellt und in ein schweizerisches Alten- und Pflegeheim eingewiesen. 19 Jahre verbringt Soutter bis zu seinem Tod in der autoritär geführten Heimanstalt in Ballaigues, wo er in der Abgeschiedenheit seiner Kammer fortan seine ganz eigene künstlerische Fantasiewelt zum Leben erweckt, die wie er selbst in jeder Hinsicht unkonventionell ist. Heute werden seine revolutionären, alle Traditionen verneinenden Werke der frühen Art brut zugerechnet und sind international begehrt. Davor ist sein Schaffen lange Zeit in Vergessenheit geraten, bis es im Zuge der großen Einzelausstellungen im Lenbachhaus München und im Kunstmuseum Bonn (1985), bei der auch die vorliegende Komposition zu sehen war, und schließlich im Kunstmuseum Basel (2002) von der Kunstgeschichte nach und nach wiederentdeckt wird.
Soutters "Schattenfiguren" – Revolutionäre künstlerische Zeugnisse einer Passion
Macht man sich bewusst, wie revolutionär und verstörend Soutters Bildfindungen der letzten Jahre auf die zeitgenössischen Betrachter:innen gewirkt haben müssen, für die die späteren Schöpfungen Nitschs, Pencks, Dubuffets oder gar Basquiats noch in ungeahnter Ferne lagen, so hat man das Gefühl, dass man hier den psychogrammatischen Bildwelten eines verkannten Genies gegenübersteht. Soutters schwarze Figuren, die er schemenhaft mit überlängten Gliedmaßen und rätselhaften Bewegungen über den flächig-abstrakt angelegten Bildgrund wandern lässt, wirken wie die bildgewordenen Schattengestalten aus Platons Höhlengleichnis, die auf der Wand vor den in der Höhle gefesselten Unwissenden vorüberziehen und für die Wahrheit gehalten werden. Anders als Platons Unwissende, die bisher kein anderes Dasein kennen, ist Soutter jedoch ein Wissender, einer, der das Leben außerhalb der Höhle kennt, jedoch, zum Höhlendasein verdammt, dazu übergegangen ist, sich seine ganz eigene künstlerische Fantasiewelt zu erschaffen.
Körperlich unfrei erreicht Soutter mithilfe der Kunst eine geistige Entgrenzung und Entrücktheit, eine Möglichkeit, seine körperlichen und seelischen Leiden der Gefangenheit und Isolation zu verarbeiten. Und so sind seine letzten, ab 1939 entstandenen Arbeiten von der Motivik der christlichen Passion und thematischen Anspielungen auf das Jüngste Gericht geprägt. Mag sein, dass ihn die Schrecken des Zweiten Weltkrieges dazu inspiriert haben oder er im Leiden des verratenen Christi eine Parallele zu seiner eigenen, qualvollen Existenz gesehen hat. Soutters Werke dieser Jahre tragen jedenfalls häufig Titel wie "Golgatha", "Jesus", "Weihnacht des Verdammten", "Sprung zum Kreuz", "Auferstehung" oder "Station der Untadeligen". Die vorliegende Komposition hat Soutter jedoch mit dem hoffnungsvollen Titel "Ceux qui récoltent", also "Jene, die ernten", bezeichnet, und so zeigen die Schattenfiguren auf diesem Blatt keine allzu exzentrisch-gequälten Gesten, sondern erscheinen vielmehr geerdet oder gar freudig tanzend, wobei der eine Tänzer mittelalterlichen Totentanzdarstellungen entsprechend auf die schlanke Gestalt des Todes hinzudeuten scheint. Mag sein, dass Soutter hier wenige Jahre vor seinem eigenen Tod die Hoffnung auf die ausgleichende Gerechtigkeit des Todes formuliert hat, dem auch diejenigen nicht entgehen werden, die das irdische Dasein reich beschenkt hat.
Louis Soutter – Unangepasster Ausnahmekünstler und Visionär
Der Schriftsteller Lukas Hartmann hat dem beeindruckenden Leben Louis Soutters 2021 unter dem Titel "Schattentanz" einen eindrucksvollen biografischen Roman gewidmet, der die Faszination für diesen verkannten Künstler und sein lange Zeit vollkommen unbekanntes Werk erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Zu Soutters Lebzeiten jedoch maß lediglich sein Cousin Le Corbusier, dem eigenwilligen Schaffen seines eigenwilligen Cousins herausragende künstlerische Bedeutung bei. Heute aber gelten Soutters nur äußerst selten auf dem internationalen Kunstmarkt angebotenen Papiergemälde mit ihren in Fingermalerei aufgetragenen, archaisch anmutenden schwarzen Schattenfiguren als die visionären Schöpfungen eines absoluten Ausnahmekünstlers. Soutters Lebensweg ist die Geschichte eines eigensinnigen Einzelgängers, der den Ansprüchen einer bildungsbürgerlichen Existenz nicht zu genügen vermochte und aufgrund seiner Unangepasstheit letztlich an den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft scheitern musste: Soutter ist nie als geisteskrank diagnostiziert worden, er ist vielmehr wegen schlechten Betragens aus dem Symphonieorchester geflogen, da er häufig Widerspruch geleistet hat, oder er hat plötzlich zwanzig Seidenkrawatten bestellt und die Rechnung dafür seinem Bruder geschickt. Amüsante Anekdoten, wie sie auch von späteren, die Gesellschaft mit ihrer Person und Kunst herausfordernden Künstlern wie Martin Kippenberger, Jonathan Meese oder Andy Warhol überliefert sein könnten. Soutters tragische Lebensgeschichte ist letztlich auch gleichermaßen die Geschichte des Scheiterns der bürgerlichen Gesellschaft an einer nicht zu klassifizierenden Künstlerpersönlichkeit, an einem unkonventionellen und visionären Geist, der letztlich sich und seine Kunst jedem Anpassungswillen entzogen hat. Aber trotz aller Tragik hat es gerade all dieser schmerzlichen Erfahrungen des Scheiterns und des Ausgeschlossenseins bedurft, um solch ein dichtes, "vom Geist des Schmerzes durchdrungenes" Werk entstehen zu lassen. [JS]
Geheimnisvoll, rätselhaft, schmerzerfüllt, verstörend, kraftvoll und immer wieder faszinierend ist Soutters psychogrammatische Bildwelt, die er in den schwarz-weißen Fingermalereien seiner letzen Schaffensphase vor uns ausbreitet. Sie scheinen – einem Tagebuch gleich – Soutters verletzliches Innerstes nach außen zu kehren, seine Ängste und Fantasien geradezu rauschhaft niedergeschrieben vor uns auszubreiten. Dieser tiefe, intime malerische Seeleneinblick verstört und fesselt gleichermaßen. Laut Michel Thévoz lässt sich die Phase der großformatigen Fingermalerein auf die Jahre 1937 bis 1942, Soutters Todesjahr, eingrenzen. Davor entstehen in der Einsamkeit seines Zimmers der schweizerischen Heimanstalt Ballaigues zunächst Bleistift- und Tuschfederzeichnungen in feiner Lineatur und in floral-ornamentalem, anschließend in manieristischem Stil, mit denen er Schulhefte über und über anfüllt und mit denen er beginnt, sich seine Qualen von der Seele zu malen. Soutters Großcousin, der berühmte Architekt Le Corbusier, hat Soutter 1927 erstmals in Ballaigues besucht und sich in den Folgejahren intensiv für die Anerkennung seines einzigartigen Schaffens eingesetzt. 1936, also bereits vor Beginn der Fingermalereien, hat Le Corbusier die besondere Innerlichkeit von Soutters Schaffen in der Zeitschrift "Minotaure" wie folgt beschrieben: "'Keine Fenster mehr, diese unnützen Augen..' er hat gelernt, ins Innere zu schauen. Durch ihn können wir in einen Menschen hineinsehen. Er [..], der durch allen Luxus des Reichtums und durch ein Leben voller Einsicht hindurchgegangen ist, und der heute [..] jeden Tag ein weißes Blatt mit jenen strengen, starken und bewunderungswürdigen Kompositionen bedeckt, wenn er aus dem traurigen Speisesaal zurück in sein Zimmer kommt." (zit. nach: Michel Thévoz, L. Soutter, 1970, S. 118). Le Corbusier ist es auch zu verdanken, dass Soutters Arbeiten bereits zu Lebzeiten in Amerika ausgestellt werden, und er verschafft seinem Cousin fortan Zugang zu geeignetem Zeichenmaterial, wie großformatiges Papier, Kohle, Tusche und Gouache. Soutters Œuvre, das sich nach seinem Tod 1942 nahezu geschlossen in seinem kleinen Heimzimmer auftürmt, welches für die letzten 19 Jahre seine ganze Welt war, zeigt nicht nur eine stilistisch progressive künstlerische Parallelwelt, sondern dokumentiert darüber hinaus den technisch ebenso bedeutenden Schritt: Mit den ab 1937 entstehenden Fingermalereien, zu denen auch die vorliegende Komposition "Ceux qui récoltent" gehört, nimmt Soutter eine technische Errungenschaft der späteren Aktionskunst vorweg und verleiht seinen Arbeiten damit eine einzigartig unmittelbare Aura.
Verkannt, vereinsamt, vergessen und postum wiederentdeckt – Zur späten kunsthistorischen Würdigung eines spektakulären Œuvres
Soutters tragischer Lebensweg ist ein fesselndes und verstörendes Zeugnis des Scheiterns. Der als zweites Kind einer großbürgerlichen schweizerischen Apothekerfamilie geborene Künstler gilt nach vielversprechenden Anfängen bald als Sonderling, der den Ansprüchen an eine bildungsbürgerliche Existenz nicht zu entsprechen vermag. Zunächst eröffnet der Wohlstand Raum zum Experimentieren: Soutter nimmt ein Studium der Ingenieurwissenschaften auf, wechselt dann zur Architektur und bricht auch dies ab, um sich fortan der Violine zu widmen. Mit 21 Jahren wird er Schüler von Eugène Ysaÿe, Professor am Königlichen Konservatorium in Brüssel, Geigenvirtuose und Komponist. Ysaÿe ist eine wichtige, positive Figur in Soutters Leben und fördert dessen außergewöhnliches musisch-künstlerisches Talent. Soutter bricht aber auch bald sein Musikstudium ab, um zunächst in Lausanne und später dann in Paris verschiedene Kunst- und Malereiklassen zu besuchen. 1897 wandert Soutter schließlich mit der reichen amerikanischen Violinistin Magde Fursman, die er in Brüssel kennenlernt hatte und die bald seine Frau werden sollte, nach Colorado Springs aus. Dort wird er Leiter des neu gegründeten Art Department am Colorado College. Nur kurz aber währt dieser vermeintlich gefestigte Moment in Soutters Leben, denn auch dieser Schritt endet schnell im Bruch und verfestigt privat und beruflich eine Geschichte des Scheiterns: 1903 kommt es zur Scheidung und zum Rücktritt von der College-Leitung. Soutter kehrt als gebrochener Mann in die Schweiz zurück. Der exzentrische Dandy hält sich bald nur noch mit Gelegenheitsjobs über Wasser und lebt auf Kosten der Familie über seine Verhältnisse. Soutter wird schließlich von seiner Familie unter Vormundschaft gestellt und in ein schweizerisches Alten- und Pflegeheim eingewiesen. 19 Jahre verbringt Soutter bis zu seinem Tod in der autoritär geführten Heimanstalt in Ballaigues, wo er in der Abgeschiedenheit seiner Kammer fortan seine ganz eigene künstlerische Fantasiewelt zum Leben erweckt, die wie er selbst in jeder Hinsicht unkonventionell ist. Heute werden seine revolutionären, alle Traditionen verneinenden Werke der frühen Art brut zugerechnet und sind international begehrt. Davor ist sein Schaffen lange Zeit in Vergessenheit geraten, bis es im Zuge der großen Einzelausstellungen im Lenbachhaus München und im Kunstmuseum Bonn (1985), bei der auch die vorliegende Komposition zu sehen war, und schließlich im Kunstmuseum Basel (2002) von der Kunstgeschichte nach und nach wiederentdeckt wird.
Soutters "Schattenfiguren" – Revolutionäre künstlerische Zeugnisse einer Passion
Macht man sich bewusst, wie revolutionär und verstörend Soutters Bildfindungen der letzten Jahre auf die zeitgenössischen Betrachter:innen gewirkt haben müssen, für die die späteren Schöpfungen Nitschs, Pencks, Dubuffets oder gar Basquiats noch in ungeahnter Ferne lagen, so hat man das Gefühl, dass man hier den psychogrammatischen Bildwelten eines verkannten Genies gegenübersteht. Soutters schwarze Figuren, die er schemenhaft mit überlängten Gliedmaßen und rätselhaften Bewegungen über den flächig-abstrakt angelegten Bildgrund wandern lässt, wirken wie die bildgewordenen Schattengestalten aus Platons Höhlengleichnis, die auf der Wand vor den in der Höhle gefesselten Unwissenden vorüberziehen und für die Wahrheit gehalten werden. Anders als Platons Unwissende, die bisher kein anderes Dasein kennen, ist Soutter jedoch ein Wissender, einer, der das Leben außerhalb der Höhle kennt, jedoch, zum Höhlendasein verdammt, dazu übergegangen ist, sich seine ganz eigene künstlerische Fantasiewelt zu erschaffen.
Körperlich unfrei erreicht Soutter mithilfe der Kunst eine geistige Entgrenzung und Entrücktheit, eine Möglichkeit, seine körperlichen und seelischen Leiden der Gefangenheit und Isolation zu verarbeiten. Und so sind seine letzten, ab 1939 entstandenen Arbeiten von der Motivik der christlichen Passion und thematischen Anspielungen auf das Jüngste Gericht geprägt. Mag sein, dass ihn die Schrecken des Zweiten Weltkrieges dazu inspiriert haben oder er im Leiden des verratenen Christi eine Parallele zu seiner eigenen, qualvollen Existenz gesehen hat. Soutters Werke dieser Jahre tragen jedenfalls häufig Titel wie "Golgatha", "Jesus", "Weihnacht des Verdammten", "Sprung zum Kreuz", "Auferstehung" oder "Station der Untadeligen". Die vorliegende Komposition hat Soutter jedoch mit dem hoffnungsvollen Titel "Ceux qui récoltent", also "Jene, die ernten", bezeichnet, und so zeigen die Schattenfiguren auf diesem Blatt keine allzu exzentrisch-gequälten Gesten, sondern erscheinen vielmehr geerdet oder gar freudig tanzend, wobei der eine Tänzer mittelalterlichen Totentanzdarstellungen entsprechend auf die schlanke Gestalt des Todes hinzudeuten scheint. Mag sein, dass Soutter hier wenige Jahre vor seinem eigenen Tod die Hoffnung auf die ausgleichende Gerechtigkeit des Todes formuliert hat, dem auch diejenigen nicht entgehen werden, die das irdische Dasein reich beschenkt hat.
Louis Soutter – Unangepasster Ausnahmekünstler und Visionär
Der Schriftsteller Lukas Hartmann hat dem beeindruckenden Leben Louis Soutters 2021 unter dem Titel "Schattentanz" einen eindrucksvollen biografischen Roman gewidmet, der die Faszination für diesen verkannten Künstler und sein lange Zeit vollkommen unbekanntes Werk erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Zu Soutters Lebzeiten jedoch maß lediglich sein Cousin Le Corbusier, dem eigenwilligen Schaffen seines eigenwilligen Cousins herausragende künstlerische Bedeutung bei. Heute aber gelten Soutters nur äußerst selten auf dem internationalen Kunstmarkt angebotenen Papiergemälde mit ihren in Fingermalerei aufgetragenen, archaisch anmutenden schwarzen Schattenfiguren als die visionären Schöpfungen eines absoluten Ausnahmekünstlers. Soutters Lebensweg ist die Geschichte eines eigensinnigen Einzelgängers, der den Ansprüchen einer bildungsbürgerlichen Existenz nicht zu genügen vermochte und aufgrund seiner Unangepasstheit letztlich an den Anforderungen der bürgerlichen Gesellschaft scheitern musste: Soutter ist nie als geisteskrank diagnostiziert worden, er ist vielmehr wegen schlechten Betragens aus dem Symphonieorchester geflogen, da er häufig Widerspruch geleistet hat, oder er hat plötzlich zwanzig Seidenkrawatten bestellt und die Rechnung dafür seinem Bruder geschickt. Amüsante Anekdoten, wie sie auch von späteren, die Gesellschaft mit ihrer Person und Kunst herausfordernden Künstlern wie Martin Kippenberger, Jonathan Meese oder Andy Warhol überliefert sein könnten. Soutters tragische Lebensgeschichte ist letztlich auch gleichermaßen die Geschichte des Scheiterns der bürgerlichen Gesellschaft an einer nicht zu klassifizierenden Künstlerpersönlichkeit, an einem unkonventionellen und visionären Geist, der letztlich sich und seine Kunst jedem Anpassungswillen entzogen hat. Aber trotz aller Tragik hat es gerade all dieser schmerzlichen Erfahrungen des Scheiterns und des Ausgeschlossenseins bedurft, um solch ein dichtes, "vom Geist des Schmerzes durchdrungenes" Werk entstehen zu lassen. [JS]
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