Lexikon
Die „Murnauer“

Wassily Kandinsky hatte das Örtchen Murnau, das idyllisch am Staffelsee und dem moorigen "Murnauer Moos" liegt, schon 1904 auf einem Ausflug entdeckt, doch es sollte noch vier Jahre dauern, bis er mit Gabriele Münter, Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin, vergleichbar den Künstlerkolonien früherer Jahre, den ersten Sommer dort verbrachte. Die bis 1914 andauernde "Murnauer Zeit" der vier Maler, die später den Kern des "Blauen Reiters" bilden sollten, war grundlegend bedeutsam für die Entwicklung der Moderne. Hier gelangten sie zu einer Verfestigung der Flächenkompositionen und zu einer Steigerung von Ausdruckskraft und Abstraktionsgrad ihrer Arbeiten.
Gabriele Münter berichtete rückblickend in ihrem Tagebuch, sie habe in Murnau schon "nach kurzer Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht - vom Naturabmalen - mehr oder weniger impressionistisch - zum Fühlen eines Inhaltes - zum Abstrahieren - zum Geben eines Extraktes." Auch Alexej von Jawlensky fand in Murnau vom impressionistischen "Tupfenmalen" bald zum Flächig-Expressiven, gewiss angeregt durch die Landschaftsformationen um Murnau. Am raschesten und intensivsten ging die Entwicklung bei Wassily Kandinsky vonstatten, der in Murnau den Schritt zur Abstraktion ging. Auf eigene, symbolhaft-düstere Weise verarbeitete Marianne von Werefkin die Eindrücke, welche die Murnauer Landschaft den vier Künstlern bot. Doch nicht nur die Natur, auch die Volkskunst Murnaus war überaus reizvoll für die Maler, die sich von den bäuerlichen Hinterglasbildern mit ihrem leuchtenden Kolorit und den vereinfachten Formen anregen ließen.
In das nur 20 km von Murnau entfernt liegende Sindelsdorf verschlug es 1910 Franz Marc, der die vier "Murnauer" aber erst im Dezember diesen Jahres in München kennen lernte, worauf bald die Gründung des "Blauen Reiters" folgte.