Auktion: 545 / Evening Sale am 08.12.2023 in München Lot 24


24
George Condo
The Walrus, 2005.
Bronze mit goldener Patina
Schätzung:
€ 120.000
Ergebnis:
€ 152.400

(inklusive Aufgeld)
The Walrus. 2005.
Bronze mit goldener Patina.
Auf dem Sockel mit dem gestempelten Namenszug sowie der Datierung und Nummerierung. Eines von 4 Exemplaren, neben einem Künstlerexemplar. 66 x 33 x 60 cm (25,9 x 12,9 x 23,6 in).
[AR].

• Fesselnde Dualität von Angst und Vergnügen, Euphorie und Hysterie.
• "The Walrus" ist ein Menschentier und verändert unsere Sehgewohnheiten.
• Mit seinem "psychologischen Kubismus" schafft George Condo Abbilder mentaler Zustände, statt Äußerlichkeiten wiederzugeben.
• 2019 wurde vor der Metropolitan Opera am Lincoln Center in New York eine überlebensgroße Skulptur des Künstlers installiert
.

PROVENIENZ: George Condo Studio, New York.
Luhring Augustine Gallery, New York.
Privatsammlung USA.
Gary Tatintsian Gallery.

AUSSTELLUNG: New Sculptures, Skarstedt Gallery, New York, 5.5.-10.6.2005 (anderes Exemplar).
George Condo: Existential Portraits, Luhring Augustine Gallery, New York, 5.5.-3.6.2006.

LITERATUR: Holzwarth Publications, Augustine Luhring (Hrsg), George Condo. Existential Portraits, 2006, S. 42f.
Gary Tatintsian Gallery (Hrsg.), Artificial Realism, Moskau 2008, S. 98f.

Innerhalb von vier Wochen entsteht im New Yorker Atelier von George Condo Anfang 2005 eine Serie von Skulpturen. Die Grundformen dieser Arbeiten entwickelt der Künstler zunächst aus Ton. Erst später werden sie in Bronze gegossen und mit Patina versehen. Der Entstehungsprozess ist ihnen deutlich anzusehen: das Auf- und Aneinanderschichten des leicht formbaren Tons, die Einkerbungen der Finger, die Schnelligkeit der Gestaltung des kompakten Materials. Auch “The Walrus“ befindet sich unter diesen Arbeiten, eine sonderbare Art Doppel- oder gar Dreifachfigur. Als Hauptcharakter ist ein Glatzkopf auszumachen, mit großen Ohren, zwei unterschiedlichen Augen und einem teils dämonisch breiten, teils zahnlosen Grinsen. In einem der Ohren steckt eine Karotte, kein seltenes, aber dennoch immer wieder irritierendes Accessoire in Condos Welt. Vor dem großen Hauptkopf wächst ein Körper oder zweiter Hals aus der Basis der Figur, ein weiteres Gesicht ist darin angedeutet, mit kleinen Augen und weit aufgerissenem Mund. Dem Titel nach ein Tier, der Ausführung nach eine Figur mit menschlichen Zügen, entzieht sich die Skulptur bewusst dem rein rationalen Verständnis und fesselt gleichzeitig mit der dargestellten Dualität zwischen Angst und Vergnügen, zwischen Euphorie und Hysterie.

Ähnliche Figuren sind zu dieser Zeit bereits von Gemälden und Zeichnungen George Condos bekannt. Der 1957 in New Hampshire geborene Künstler findet in der pulsierenden Kunstszene rund um Andy Warhol und Jean-Michel Basquiat zu seinem ganz eigenen Stil. Von 1985 bis 1995 verlässt er für ein Jahrzehnt die amerikanische Kunst- und Kulturwelt in Richtung Europa, wo er überwiegend in Paris lebt und mit neuen Eindrücken konfrontiert wird. Die Erfahrungen dieser Zeit und der Kontakt mit der europäischen Kunst werden prägend für seine künstlerische Handschrift, die sich als eine Art Synthese aus kunsthistorischen Verweisen und zeitgenössischer Ästhetik zusammenfassen lässt. Auch in "The Walrus" lassen sich kunsthistorische Bezüge erkennen. So hatte beispielsweise Willem de Kooning Anfang der 1970er Jahre vergleichbare Skulpturen aus Ton geformt und sie anschließend in Bronze gegossen. Mit dem nachgiebigen und geschmeidigen Material gelang es auch ihm, seine expressive Malweise in die Dreidimensionalität zu übertragen. Im Gegensatz zu Willem de Koonings Skulpturen wirken George Condos Arbeiten jedoch, als wären sie einem Comic der Jahrhundertwende entsprungen. Gleichzeitig wecken sie mit ihren unterschiedlichen Gesichtsausdrücken Erinnerungen an die kubistischen Skulpturen Picassos, auf den sich George Condo bekanntermaßen immer wieder bezieht. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts hatte Picasso den Versuch unternommen, unterschiedliche Perspektiven eines Motivs in einer Darstellung zu vereinen.

In weniger traditionellen, kunsthistorischen Wegen gedacht und George Condo als eigene künstlerische Persönlichkeit wahrgenommen, wird eine Reduzierung auf einzelne Vorbilder seinem Schaffen jedoch nicht gerecht. Denn weder kopiert er fremde Stile, noch übernimmt er deren Intentionen. Vielmehr lässt er die Essenz ihrer Vorgehensweisen in seine Werke einfließen und entwickelt daraus eine ungemein zeitgemäße, immer auch von Comics und den Medien inspirierte, visuelle Sprache. In Interviews beschreibt er seinen Stil oftmals als “psychologischen Kubismus“, mit dem er nicht das Äußere eines Charakters abzubilden versucht, sondern einen Einblick in den mentalen Zustand seiner Figuren gibt. Er bildet somit nicht wie die Kubisten verschiedene Perspektiven der sichtbaren Welt ab, sondern macht die widerstreitende, innere Welt und Emotionen der Menschheit sichtbar. Angst, Freude und Erschrecken lassen sich in “The Walrus“ ausmachen, erzeugen Furcht bis hin zu leisem Grauen und gleichzeitig dämonische Freude über die Irrwitzigkeit der Figur mit Karrotte im Ohr. Mit seinen Skulpturen vergoldet George Condo unsere tiefsten Emotionen, gespaltenen Persönlichkeiten und seelischen Abgründe und führt sie durch die groteske Überzeichnung gleichzeitig humorvoll ad absurdum. [AR]


George Condo – „Artificial Realism“

Die Entwicklung der Skulptur im 20. Jahrhundert, der modernen Plastik und Objektkunst verdankt den Beiträgen von Malern und Malerinnen ganz entscheidende Impulse. Schon im 19. Jahrhundert hatten Zeichner und Maler wie Daumier oder Gauguin in ihren außerordentlichen Plastiken dem „Realismus“ durch eine Steigerung ins Groteske ganz neue Spielarten hinzugefügt. Mit Max Ernst, Joan Miró und vor allem Picasso wird das Repertoire der Möglichkeiten, das Spielfeld dessen, was Plastik sein kann, erweitert – inklusive der Verwendung von Sandförmchen, die Frösche sind, und Spielzeugautos, die als Paviankopf durchgehen. Dem „Material“, aus dem sich ein Objekt zusammensetzt, kommen ganz neue Aufgaben zu. Transformationsprozesse werden überraschend in Gang gesetzt, wandelbare Elemente so ins Spiel gebracht, dass sie immer auch noch etwas ganz anderes zeigen, als sie ihrer mitgeführten „Herkunft“ und Bestimmung nach bedeuten. In den beginnenden 1980er Jahren hatten sich die Künstlerinnen und Künstler erneut sogenannten „ursprünglichen Methoden“ versichert, direktes plastisches Eingreifen war bald als Taktik der Selbstüberlistung das, was in der Malerei als „Bad Painting“ noch relativ leicht zu apostrophieren war. Der direkte Griff in formbare Masse, ob Ton, Gips, Plastilin oder Salzteig, suchte sich in der Plastik neue Zielvorgaben: mit absichtlich „roher“, „primitivistischer“ Geste als unmittelbar einfache Gestaltungsmöglichkeit und in absichtsvoller Kombination erweitert durch unmittelbar der Wirklichkeit entnommene Fundstücke.

Collage, Assemblage, Serialität sind nur einige der artifiziell intelligenten Verfahren der Moderne. Die Verblüffung, die aus der formalen Lösung entspringt, entsteht aus unvorhergesehenen Kombinationen. Das Kunstwerk als Vexierbild, das in seiner Sichtbarkeit eben gerade nicht auf eine Bedeutungsebene hin auflösbar ist, bleibt ein anhaltendes Faszinosum. Gelegentlich greift auch George Condo mit spielerischer Leichtigkeit zur dreidimensionalen Plastik als Medium der Ereignisse. Seine Charaktere verlassen ihre Gebundenheit in der Zweidimensionalität des Bildes, werden zu unbezweifelbaren Charakterköpfen – Ausweis ihrer Persönlichkeit. Die Vielzahl der Anspielungen, der Rück- und Querverweise auf „high and low“ kommen, wie meist bei Condo, unaufgeregt und mit souveränem Understatement daher. Die „shiny surface“ verwischt die Spur ihrer „handgemachten“ Oberflächen mit ihrer bedeutungsvollen Herkunft aus der christlichen Sakralkultur des hohen Mittelalters, wobei eine anschaulich im Ohr „steckende“ und frei Hand modellierte Karotte – man denke an eine Orakelfigur des Voodoo-Kults – sie gleichzeitig in pagan apostrophierte Praxis verstrickt. Ein methodischer Kurzschluss der Bedeutungsebenen, den aufzulösen, Condo nicht bereit ist – „Artificial Realism“.

Mit seinen „Hybrid Paintings“ hatte Condo schon in den 1980er Jahren die stilbildenden Prämissen seiner Generation leichthändig verlassen und sowohl für Nordamerika wie auch, durch seine langjährigen Aufenthalte, für Europa konsequent das offene System „Kunst kommt von Kunst“ begonnen, neu auszumessen. Das Objekt als Thema seiner Bilder tritt hier schon mit großer Selbstverständlichkeit als Subjekt auf. Eine Plastik wie „The Walrus“ kann nicht und will nicht als geschmackvolle Imitation irgendeiner „Wirklichkeit“ interpretiert werden – sie ist Wirklichkeit.
Im Mai 2005 hat „The Walrus“ in New York in der Galerie von Per Skarstedt seinen ersten Auftritt. Es ist Teil einer Gruppe von zehn massiven „larger than life“-Objekten, die Condo als Auftakt einer weiteren Reihe seiner „Existential Portraits“ einführt. Dass die als Porträtbüste ausgeführte „highly polished, patinated bronze“, ein „zweites Gesicht“ mit sich führt, ist eine schon auf den ersten Blick kaum übersehbare Eigenartigkeit. Der Clou liegt jedoch in ihrer so spontanen wie clever kalkulierten Ausführung. Kaum hat man sich für die Darstellung eines Schreis aus offenem Mund, Munchs berühmtes Bild in die Erinnerung gerufen oder sich für einen von Francis Bacons „Päpsten“ entschieden, spielt Condo in die Erinnerungslücke gleich noch ein drittes Bild: Jasper Johns hatte zu Beginn der 1960er Jahre augenscheinlich „ins Bild gebissen“, um mit einem Handgriff, einer expliziten Geste, eine Form zu finden, in der die Spuren der Finger den Biss in die Oberfläche einer Leinwand als Kunstwerk plausibel machen. Die scheinbar vertraute Geste ist so seltsam wie verstörend. – Ist das noch der Finger in der Wunde oder schon die Hand in der berühmten „Bocca delle Veritá“?

Condo geht in der Hybridisierung seines Porträts eines Monsters 2005 noch zwei Schritte weiter. Nie um falsche Hinweise auf richtige Anspielungen verlegen, gibt er uns mit dem Titel „The Walrus“ einen Hinweis auf jenes Acht-Minuten-Stück, mit dem John Lennon 1967 der literarisch ambitionierten Interpretation von Songtexten eine absichtsvoll ironische Vorführung versprach. Lennon ging es schon bald – und mit Unterstützung der Plastic-Ono-Band – darum, die Konventionen der einstigen „Fab Four“ aus Liverpool hinter sich zu lassen, war die Welt der sich „wie wild“ gebärdenden und in Ohnmacht fallenden, nicht nur weiblichen Fans doch längst zum Klischee seiner eigenen Teilnahmslosigkeit erstarrt.

In New York nach 9/11, zumal in einer zum Bildhaueratelier umfunktionierten Belle Etage eines typischen Townhouses in Upper Manhattan, ist jedes aus Ton und Fundstücken zur Assemblage gebrachte Objekt ein Ausweis von gesicherter Methode auf unsicherem Terrain. Es entstehen Portraits einer Spezies, die sich selbst im Moment ihrer Erscheinung schon als Wechselwesen zu erkennen geben. „The Walrus“ ist ein Menschentier, das seine nie enden wollende Frage nach Zugehörigkeit nicht loswird, das sich vor unseren Augen bloßstellt, sein „Anderssein“ als gegeben selbstverständlich hinnimmt und betont, dass es nie „Teil von uns“, geschweige denn, „akzeptierter“ Teil unserer Daseinsform sein wird. Betont wird das auch durch das allzeit sichtbare, „zweite Gesicht“, ein weiterer Kopf ohne Körper, der aus der Vorderansicht scheinbar Teil des Barts ist, aus der Seitenansicht aber wie ein Stalagmit aus der hinteren Figur herauswächst. Verbunden unverbunden thematisiert die Doppelidentität das Hineingeworfensein in eine Gesellschaft, die ihre gern öffentlich postulierten Lieblingsminderheiten nur so lange schätzt, wie sie als nutzbringende Maske an- und abgelegt werden kann. Die „konkrete Dingdimension“ von zeitgenössischer Kunst, in all ihrer Schonungslosigkeit, wird in ihrer Überzeugungskraft gerade dadurch entwickelt, dass sie unsere Vorstellung von „dem Anderen“ unbarmherzig als unsere eigene Projektion von uns selbst im Gesicht des Gegenübers entlarvt.

Wie bizarr auch immer die Präsenz von „The Walrus“ ist, ihr Zeigen von Emotion scheint so vertraut wie plausibel. Die Charaktere von jeder Frau, jedem Mann, jedem Wesen sind nichts weiter als „burnt-out superheroes, ghosts of themselves“. Auch hier, wie in vielen seiner gefeierten Leinwandbilder zeigt sich Condo als Moralist, und durchaus in einer Linie mit Meisterdenkern wie Montaigne, Voltaire oder Kondiaronk. Die Überzeugungskraft von „The Walrus“ führt in seinem „Artificial Realism“ auch noch die letzten Kriterien formalästhetischer Rechtfertigung von Ideen ad absurdum. Condo spielt weiter, ohne den Wunsch nach einem leichtfertigen oder gar versöhnlichen Kompromiss. Er verändert unsere Sehgewohnheiten, verwickelt expandierende Erscheinungsbilder in eine stets offene Diskussion, erweitert durch sein experimentelles Transferverfahren Tradition und Gegenwart und formuliert so – scheinbar im Nebenbei – eine gnadenlose Absage an „politisch“ belanglose Kunst.

Ralph Rugoff: „Do you see these characters as representing orphaned or dislocated belief systems?“

George Condo: „I see them as fractions of humanity battling extinction.“

Axel Heil



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George Condo
The Walrus, 2005.
Bronze mit goldener Patina
Schätzung:
€ 120.000
Ergebnis:
€ 152.400

(inklusive Aufgeld)