Auktion: 550 / Evening Sale am 07.06.2024 in München Lot 123001982


123001982
Ernst Ludwig Kirchner
Nacktes Mädchen auf Diwan, Ca. 1923.
Öl auf Leinwand
Schätzpreis: € 400.000 - 600.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.
Nacktes Mädchen auf Diwan. Ca. 1923.
Öl auf Leinwand.
Links oben signiert. Verso signiert und betitelt sowie mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) sowie der handschriftlichen Registriernummer "Da/Bg 7". Auf dem Keilrahmen mit dem vom Künstler bezeichneten Ausstellungsetikett. 90,5 x 120 cm (35,6 x 47,2 in).
Das Werk ist im Photoalbum III des Künstlers enthalten (Photo 269, dort datiert "1924"). [CH].

• Radikal moderne Ästhetik in leuchtend flächiger Farbigkeit.
• Alles auf einen Blick: der weibliche Akt, ein eigenhändig geschnitzter Stuhl und im Hintergrund der von Kirchner entworfene Wandteppich "Paar mit Kind".
• Bereits zu Lebzeiten des Künstlers wird das großformatige Gemälde mehrfach ausgestellt (Galerie Ludwig Schames, 1925, Museum Folkwang, 1927, Münchener Neue Secession, 1928).
• Bedeutende Ausstellungshistorie: zuletzt 2010 in der umfassenden Kirchner-Retrospektive im Städel Museum, Frankfurt a. Main, ausgestellt
.

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

Wir danken Franz Dinda, Berlin, für die wichtigen Hinweise und die freundliche Unterstützung.

PROVENIENZ: Aus dem Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946, verso auf der Leinwand m. d. Nachlassstempel).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, München (1954).
Galerie Paffrath, Düsseldorf.
Galerie Thomas, München.
Privatsammlung Deutschland (vom Vorgenannten erworben).

AUSSTELLUNG: Kirchner, Galerie Ludwig Schames, Frankfurt a. Main, Nov./Dez. 1925, Kat.-Nr. 40 (dat. "1923").
Ernst Ludwig Kirchner, Museum Folkwang, Essen, März 1927.
Ernst Ludwig Kirchner und andere, Nassauischer Kunstverein, Städtische Gemäldegalerie, Wiesbaden, Mai 1927.
XIV. Ausstellung, Münchener Neue Secession, Glaspalast München, Sommer 1928, S. 20, Kat.-Nr. 123 (m. ganzs. SW-Abb., S. 54, m. d. Titel "Liegende nackte Frau", auf d. Keilrahmen m. d. vom Künstler bezeichneten Ausstellungsetikett).
Ernst Ludwig Kirchner. Aquarelle, Zeichnung und Druckgraphik aus dem Besitz des Städel, Frankfurt a. Main, Wissenschaftszentrum, Bonn (Bad Godesberg), 18.4.-1.6.1980, S. 89 (m. Abb.).
Ernst Ludwig Kirchner. Die Deutschlandreise 1925/26, Kunstsammlungen Chemnitz, 13.5.-5.8.2007, S. 66, Kat.-Nr. 9 (m. ganzs. Abb.).
Expressionismus aus den Bergen. Ernst Ludwig Kirchner, Philipp Bauknecht, Jan Wiegers und die Gruppe Rot-Blau, Kunstmuseum Bern, 27.4.-19.8.2007; Groninger Museum, Groningen, 22.9.2007-13.1.2008; Bündner Kunstmuseum, Chur, 16.2.-25.5.2008, S. 306, Kat.-Nr. 34 (m. Abb., S. 183).
Ernst Ludwig Kirchner, Retrospektive, Städel Museum, Frankfurt a. Main, 23.4.-25.7.2010, S. 278, Kat.-Nr. 121 (m. ganzs. Abb., S. 189).

LITERATUR: Donald E. Gordon, Ernst Ludwig Kirchner. Mit einem kritischen Katalog sämtlicher Gemälde, München/Cambridge (Mass.) 1968, S. 137 u. 386, WVZ-Nr. 768 (m. SW-Abb.).
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Wolfgang Henze, Die Plastik Ernst Ludwig Kirchners. Monographie mit Werkverzeichnis, Wichtrach/Bern 2002, S. 230 (m. Farbabb., Nr. 224).
Hanna Strzoda, Die Ateliers Ernst Ludwig Kirchners. Eine Studie zur Rezeption "primitiver" europäischer und außereuropäischer Kulturen, Petersberg 2006, S. 400 (Fußnote 2433).
Hans Delfs (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Der Gesamte Briefwechsel ("Die absolute Wahrheit, so wie ich sie fühle"), Zürich 2010, Nr. 1559 u. 1849.
Thorsten Sadowsky (Hrsg.), Ausst.-Kat. Ernst Ludwig Kirchner. Der Künstler als Fotograf, Kirchner Museum, Davos, 22.11.2015-1.5.2016, S. 181 (Fotografie).
Isabel Herda, Christiane Litz, Eine Art Schule? Zur Rezeption des Verhältnisses von Hermann Scherer und Ernst Ludwig Kirchner, in: Ausst.-Kat. Expressionist Scherer. Direkter, roher, emotionaler, Museum für Neue Kunst, Städische Museen, Freiburg, 2019/20, S. 11-27 (m. Abb., Nr. 7, S. 24).
Martin Schwander, Mit Lena im Wildbodenhaus. Zu Hermann Scherers und Ernst Ludwig Kirchners Aktdarstellungen der Jahre 1923-1925, in: Ausst.-Kat. Hermann Scherer. Kerben und Kanten, Kunstmuseum Basel, Kunstmuseum Chur, Bündner Kunstmuseum, Hamburg 2023, S. 20-31 (m. Abb., Nr. 17, S. 28).

Als Modell des Künstlers
Der Umzug von dem "Haus in den Lärchen" in das "Wildbodenhaus" am Eingang in das Sertigtal scheint Kirchner zu beflügeln, erneut das Atelier respektive den Wohnraum als Ort, als Bühne für seine Malerei in den Vordergrund zu stellen. Natürlich ist es immer wieder Erna Schilling, die er malt, sein dankbarstes Modell, entweder allein oder zusammen mit den Besuchern, die jetzt häufiger das entlegene Tal aufsuchen, um Kirchner zu besuchen. Für ihn, den ruhelosen Künstler, müssen sie posieren, oft den ganzen Tag oder Tage während ihres Aufenthalts. Und so trifft es hier auch Lena Brubacher (1904–1991), die Freundin von Hermann Scherer, dem sie Anfang 1924 nachreist von Basel nach Frauenkirch. Scherer verbringt schon 1922 mehrere Tage bei Kirchner, um von ihm zu lernen, sich weiterzuentwickeln wie die anderen Basler Paul Camenisch und Albert Müller, mit denen er die Künstlergruppe "Rot-Blau" gründet.
Die junge Lena Brubacher steht im Wildbodenhaus fast täglich mehrere Stunden Aktmodell für ihren Liebhaber Hermann Scherer und für Kirchner, dem ihr jugendlicher Körper als künstlerische Anregung sehr willkommen ist. Nach zwei bis drei Wochen allerdings kehrt sie dem Wildbodenhaus den Rücken, physisch und psychisch ausgelaugt. Radierungen, Holzschnitte, Skizzen und schließlich das Gemälde dokumentieren Lenas Besuch im Wildbodenhaus; Fotografien von Kirchner, wie sonst Besucher dokumentierend, gibt es von diesem Kirchner faszinierenden Modell erstaunlicherweise nicht. (Vgl.: Martin Schwander, Mit Lena im Wildbodenhaus, in: Hermann Scherer, Kerben und Kanten, Zürich 2022, S. 20f.)

Lena als gewebtes Modell
Hier also liegt Lena mit leicht welligem, rotblondem Haar scheinbar entspannt auf einer mit einem Kelim bedeckten Chaiselongue im Wohnzimmer des Künstlers. Ihre linke Gesichtshälfte wird von einem üppigen Blumenstrauß etwas verdeckt. Obst in der von Kirchner geschnitzten Obstschale bereichert die Szene, die sich im Januar oder Februar ergibt. Hinterfangen wird die Situation von einem ausladenden Wandteppich mit dem Motiv "Paar mit Kind", nach einem Entwurf Kirchners aus dem Jahr 1923, den die seit 1922 mit Kirchner bekannte Textilkünstlerin Lise Gujer als verzahnte Wirkerei mit Leinenkette und farbigem Wollschuss ausführt.
Den 85 mal 241 Zentimeter großen Wandteppich skizziert Kirchner aber nur zur Hälfte – nur das angeschnittene Gesicht der Frau hinter dem Kind links ist noch zu erkennen. Er verleiht der Weberei eine Farbigkeit, die der Künstler bei dem ersten Ergebnis des Wandteppichs wohl vermisst und dessen Darstellung er im Gemälde zu einer kräftigen Farbigkeit verhilft. Erst postum in den 1950er Jahren wird Lise Gujer das Thema nochmals umsetzen und kräftig eingefärbte Wollgarne verwenden. (Vgl. Eberhard W. Kornfeld, Textilarbeiten nach Entwürfen von E. L. Kirchner, Bern 1999, S. 20)
Wie nebenbei erwähnt Kirchner hier im Gemälde eine für ihn wichtige Erweiterung seines Tuns, ein erstes Dokument also der 1922 begonnenen Zusammenarbeit zwischen Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer, die als Weberin tätig ist und auf Anregung des Künstlers verzahnte Wirkereien nach seinen Entwürfen erstellt. Die Vorlage für das gemalte Exemplar im Bild entsteht wie beschrieben 1923, weitere Fassungen webt Lise Gujer postum in den Jahren nach 1953. Kirchner rügte nach den ersten drei Arbeiten die mangelnde Farbigkeit, hervorgerufen durch die zu intensive Wirkung der Leinenkette. Von größter Seltenheit, von den drei frühen Arbeiten der Jahre 1922 bis 1923 ist nur je ein zeitgenössisches Exemplar bekannt.
Und links im Hintergrund zitiert Kirchner zudem eine der zahlreich von ihm geschnitzten Sitzgelegenheiten, hier "Stuhl mit großem Akt", beschnitzt an der Rückenlehne. Kirchner schnitzt dieses ausgefallene Möbel 1920 noch im "Haus in den Lärchen" aus Arvenholz und bemalt es mit Ochsenblut. Umschlossen von einer bühnenhaft inszenierten Einrichtung in Wohnhaus und Atelier zeigt Kirchner Lena Brubacher in einer spannungsreichen Distanziertheit. Durch die vibrierende Umgebung mit den stilllebenartigen Details erweist sich dieser Akt auch als ein Psychogramm des Künstlers selbst und ist typisch für seine Malerei Mitte der 1920er Jahre. [MvL]



123001982
Ernst Ludwig Kirchner
Nacktes Mädchen auf Diwan, Ca. 1923.
Öl auf Leinwand
Schätzpreis: € 400.000 - 600.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.