Auktion: 554 / Modern Art Day Sale am 08.06.2024 in München Lot 121002739


121002739
Ernst Ludwig Kirchner
Straßenszene (Passanten auf der Straße), 1928.
Tuschpinsel- und Tuschfederzeichnung über Bleis...
Schätzpreis: € 10.000 - 15.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.
Straßenszene (Passanten auf der Straße). 1928.
Tuschpinsel- und Tuschfederzeichnung über Bleistift.
Verso mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Registriernummer "F Da / Bb 10". Auf glattem, beigem Zeichenpapier. 34,5 x 26,5 cm (13,5 x 10,4 in), nahezu blattgroß.
Verso mit der Bleistiftzeichnung "Zwei Frauen mit Hut", um 1910. [CH].

• Dicht ausgearbeitete Zeichnung mit perspektivisch spannungsreicher, mehrfiguriger Komposition.
• Beidseitig bemaltes Blatt: verso mit der deutlich früheren Bleistiftzeichnung zweier Frauen (um 1910).
• Inspiriert von der Reise nach Deutschland 1926, greift E. L. Kirchner erneut das Motiv seiner so berühmten Berliner "Straßenszenen" aus den Jahren 1913/14 auf.
• Kirchner beginnt zu dieser Zeit, die Form erstmals völlig flächig zu betrachten: Bildelemente überlagern und durchdringen sich, gegenständlich Getrenntes tritt in einer gemeinsamen Form auf.
• In diesen Jahren entstehen auch kompositorisch ähnliche "Straßenszenen" in Öl, u. a. "Straßenbild vor dem Friseurladen" (Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden), "Straße mit Passanten bei Nachtbeleuchtung" (Museum Frieder Burda, Baden-Baden) und "Straßenszene" (Milwaukee Art Museum)
.

Dieses Werk ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946).
Stuttgarter Kunstkabinett Roman Norbert Ketterer, Stuttgart (1954).
Kunstkabinett Klihm, München (bis 1970).
Privatsammlung.
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel, Lugt 6032).

AUSSTELLUNG: Ernst Ludwig Kirchner, Kunstkabinett Klihm, München, 16.9.-24.11.1969, Kat.-Nr. 59 (m. Abb.).
Ernst Ludwig Kirchner. Die Deutschlandreise 1925/26, Kunstsammlungen Chemnitz, 13.5.-5.8.2007, Kat.-Nr. 89 (m. ganzs. Abb., S. 257).
Schleswig-Holsteinisches Landesmuseum, Schloss Gottorf, Schleswig (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 1995-2001).
Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2001-2017).
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR: Claus von Manteuffel, Hans Bollinger, Wolfgang Henze u. Roman Norbert Ketterer (Hrsg.), Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Pastelle, Stuttgart/Zürich 1979, Kat.-Nr. 87 (m. ganzs. SW-Abb.).
Anton Henze, E. L. Kirchner. Leben und Werk, Stuttgart/Zürich 1980.
Heinz Spielmann (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Sammlung Hermann Gerlinger, Stuttgart 1995, S. 280f., SHG-Nr. 412 (m. Abb., S. 280).
Ulrich Pfarr, Reiz, Kälte und Entfesselung. Strassenszenen, in: Ernst Ludwig Kirchner. Leben ist Bewegung, Galerie der Stadt Aschaffenburg, Landesmuseum Oldenburg, 1999/2000, S. 46-61 (m. Abb.).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle (Saale) 2005, S. 360, SHG-Nr. 802 (m. Abb., S. 361).

1925/26 reist E. L. Kirchner nach vielen Jahren erstmals wieder nach Deutschland. Im Winter 1925/26 besucht Kirchner zunächst Frankfurt am Main, dann Chemnitz und Dresden und schließlich Berlin, kehrt anschließend für einige Zeit nach Davos zurück, bevor er im Juni 1926 zu einer weiteren Reise nach Dresden aufbricht. Während seiner Aufenthalte sieht Kirchner u. a. erstmals die umfassende Sammlung seines befreundeten Mäzens Carl Hagemann, er besucht das Städel Museum in Frankfurt, die "Galerie der Moderne" in den Kunstsammlungen Chemnitz, die wichtigsten Berliner Kunstmuseen, die "Internationale Kunstausstellung" in Dresden und lernt die Tänzerinnen Mary Wigman und Gret Palucca kennen, und mit ihnen den modernen Ausdruckstanz. Nach Jahren der doch abgeschiedenen Lebensweise in der Schweiz, atmet der Künstler nun erneut die einst so vertraute Großstadtluft und sammelt zahlreiche neue Eindrücke, die er in den darauffolgenden Monaten und Jahren in Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälden verarbeitet. "Die Reisen waren sehr lehrreich für mich" (E. L. Kirchner, 26.9.1926, in: Lothar Grisebach (Hrsg.), E. L. Kirchners Davoser Tagebuch, Stuttgart 1997, Nr. 185, S. 108).

Nicht ganz wahrheitsgetreu schreibt Kirchner, er habe von der Reise künstlerisch "gar keine Anregung" davongetragen, was jedoch in vielerlei Hinsicht leicht zu widerlegen ist. Nach 1926 entstehen sowohl einzelne von Kirchners sog. "Deutschlandreise" inspirierte Stadtansichten von Chemnitz, Dresden und Zürich als auch einzelne Straßenszenen, die natürlich das Sujet der berühmten Straßenszenen von 1913/14 aufgreifen, stilistisch jedoch einer ganz anderen, neuen Schaffensphase angehören: In Öl schafft Kirchner die mit der hier angebotenen Zeichnung thematisch eng verwandten Gemälde "Straßenbild vor dem Friseurladen" (1926, Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen, Dresden), "Straße mit Passanten bei Nachtbeleuchtung" (1926/27, Museum Frieder Burda, Baden-Baden) und "Straßenszene" (1926/27, Milwaukee Art Museum). Obwohl sie eine große Dynamik und Bewegtheit enthalten, sind die einstige Hektik und Unmittelbarkeit des flüchtigen Moments der Berliner Jahre einer durchdachteren Komposition, einer nahezu architektonischen Konstruktion und dekorativen Organisation der Fläche gewichen: Auch in der vorliegenden Zeichnung überlagern und durchdringen sich die Bildelemente, geometrisch abstrahierte Formen, Kringel, Schraffuren, Aussparungen und dunkle Flächen werden dicht an dicht aneinandergesetzt und bilden eine gemeinsame Form. Die Passanten, die hier im Vordergrund auf einem Trottoir aufeinandertreffen werden als flächig ausgearbeitete, nahezu ornamentalen Gebilde und Formen gestaltet. Kugelige Lampen reihen sich im Hintergrund, Dampf steigt auf und die angedeutete Architektur verortet die Szenerie und stabilisiert die Komposition. Kirchner schafft eine großstädtische Momentaufnahme, die uns trotz der ihr inhärenten Dynamik eines typischen aneinander Vorbeieilens mehrerer Fremder in ihrer gemäldehaft ausgefeilten Konstruktion die meisterliche Zeichenkunst Ernst Ludwig Kirchners zur Anschauung bringt. [CH]



121002739
Ernst Ludwig Kirchner
Straßenszene (Passanten auf der Straße), 1928.
Tuschpinsel- und Tuschfederzeichnung über Bleis...
Schätzpreis: € 10.000 - 15.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.