Auktion: 533 / Modern Art Day Sale und Sammlung Hermann Gerlinger am 10.12.2022 in München Lot 453

 

453
Ernst Ludwig Kirchner
Sitzende Frau in Corsett, Um 1913.
Bleistiftzeichnung und Aquarell
Schätzung:
€ 40.000
Ergebnis:
€ 52.500

(inklusive Aufgeld)
Sitzende Frau in Corsett. Um 1913.
Bleistiftzeichnung und Aquarell.
Rechts unten signiert und datiert. Verso datiert und betitelt sowie mit dem Nachlassstempel des Kunstmuseums Basel (Lugt 1570 b) und der handschriftlichen Nummerierung "A Be/Bg 3". Auf festem Velin. 56,4 x 36,5 cm (22,2 x 14,3 in), blattgroß. [CH].
Verso mit Bleistiftzeichnung eines knienden weiblichen Akts, nahezu blattgroß, um 1911.
• Beidseitig bemaltes Blatt: verso mit der Bleistiftzeichnung eines weiblichen Akts.
• Aus der besten Zeit der gesuchten Berliner Jahre.
• Mit schnellen, selbstbewusst gesetzten Strichen versieht Kirchner eine intime Atelierszene mit bewusst provokant-erotischer Ausstrahlung.
• Spannungsreiche Verknüpfung von Akt und Interieur, Aufsicht und Frontalperspektive sowie einem Verschwimmen von Vorder- und Hintergrund
.

Die Arbeit ist im Ernst Ludwig Kirchner Archiv, Wichtrach/Bern, dokumentiert.

PROVENIENZ: Nachlass des Künstlers (Davos 1938, Kunstmuseum Basel 1946).
Sammlung Hermann Gerlinger, Würzburg (mit dem Sammlerstempel Lugt 6032, 2002 erworben, Villa Grisebach, Berlin).

AUSSTELLUNG: Kunstmuseum Moritzburg, Halle an der Saale (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, bis 2017).
Expressiv! Die Künstler der Brücke. Die Sammlung Hermann Gerlinger, Albertina Wien, 1.6.-26.8.2007, Kat.-Nr. 159 (m. Abb.)
Buchheim Museum, Bernried (Dauerleihgabe aus der Sammlung Hermann Gerlinger, 2017-2022).

LITERATUR: Kornfeld und Klipstein, Bern, Moderne Kunst des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, 8. und 9.6.1977, Los 392 (m. Abb.).
Villa Grisebach, Berlin, Ausgewählte Werke, 29.11.2002, Los 28 (m. Abb.).
Hermann Gerlinger, Katja Schneider (Hrsg.), Die Maler der Brücke. Bestandskatalog Sammlung Hermann Gerlinger, Halle 2005, S. 335, SHG-Nr. 754 (jeweils m. Abb.).
Katja Schneider (Hrsg.), Moderne und Gegenwart. Das Kunstmuseum in Halle, Stiftung Moritzburg, Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt, Halle (Saale) 2008 (m. Abb.).

1911 übersiedelt E. L. Kirchner in die Großstadt Berlin. Die noch junge Metropole hatte sich zu dieser Zeit bereits zu einem der aufregendsten kulturellen Zentren in Deutschland entwickelt und zieht so u. a. auch den jungen Kirchner und seine "Brücke"-Kollegen in ihren Bann. In seinen Wohnateliers in der Durchlacher Straße in Berlin-Wilmersdorf und später in der Körnerstraße in Berlin-Friedenau verarbeitet Kirchner fortan die Eindrücke seines neuen Wohnorts. Auf Streifzügen durch die Straßen Berlins begegnet ihm das pralle Leben, eine ganz besondere Großstadt-Atmosphäre, das nächtliche Treiben der vergnügungssüchtigen Berliner auf den Boulevards, ihr mondäner Wohlstand, aber auch die dunkleren Seiten des Großstadtlebens, die Prostitution, die zunehmende Anonymität und Schnelllebigkeit der auf engem Raum lebenden großen Vielzahl von Menschen. Der Lärm und die Schnelllebigkeit der Großstadt überfordern Kirchner häufig, im Atelier kann er sich auf das konzentrieren, was ihn beglückt: seine Kunst. Mittelpunkt ist und bleibt dabei häufig der Mensch, insbesondere die weibliche Figur und der weibliche Akt. Unser Blatt zeigt gleich beides: Während sich Kirchner auf der ausgearbeiteten Vorderseite einer nur mit Korsett und Strümpfen bekleideten koketten Dame widmet, entdeckt man auf der Rückseite zudem eine spontane Bleistiftzeichnung eines knienden weiblichen Aktes.

Wie schon während der Anfänge der Künstlergruppe "Brücke" in Dresden spielt das Atelier des Künstlers auch in Berlin eine übergeordnete Rolle im Alltag des Malers: Es ist zugleich Rückzugsort und Inspirationsquelle. Das zum Teil selbst gestaltete Interieur ist in Kirchners Werken sehr häufig Teil der Darstellung. In der hier angebotenen Darstellung ist die spärlich bekleidete weibliche Figur das zentrale Motiv, um das die nur flüchtig angedeuteten Einrichtungsgegenstände als Staffage, als Farbtupfer und visuell interessante Formenvielfalt im Hintergrund angeordnet werden. Der gelbe Teppich, in zahlreichen Darstellungen und Gemälden dieser Zeit zu entdecken, wird in direkter Aufsicht gezeigt, ein zweiter Teppich und ein kleines Tischchen bilden den Hintergrund der auf dem Bett sitzenden Frauenfigur, die alle Blicke auf sich zieht. Ihre Frisur weist sie als moderne Frau der unmittelbar bevorstehenden Roaring Twenties aus, doch ihr fast zurückhaltend gesenkter Blick kollidiert mit der provokant-aufreizenden Aufmachung. So offenbart die Darstellung mit ihrem schwungvollen Strich und dem nah herangerückten Bildausschnitt nicht nur eine Gleichzeitigkeit von Intimität, Sinnlichkeit und Provokation, sondern zeigt den großartigen Zeichner E. L. Kirchner hier auf dem Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens. [CH]



453
Ernst Ludwig Kirchner
Sitzende Frau in Corsett, Um 1913.
Bleistiftzeichnung und Aquarell
Schätzung:
€ 40.000
Ergebnis:
€ 52.500

(inklusive Aufgeld)