Auktion: 560 / Evening Sale am 06.12.2024 in München Lot 124000932
124000932
Gerhard Richter
Stadtbild, 1968.
Öl auf Leinwand
Schätzpreis: € 350.000 - 450.000
Informationen zu Aufgeld, Steuern und Folgerechtsvergütung sind ab vier Wochen vor Auktion verfügbar.
Stadtbild. 1968.
Öl auf Leinwand.
Verso signiert, datiert, betitelt "Stadt" sowie bezeichnet und mit dem Richtungspfeil. 53 x 43 cm (20,8 x 16,9 in). [JS].
• Richters "Stadtbilder" sind Teil seines bedeutenden schwarz-weißen Frühwerkes und zugleich Schlüsselwerke seines abstrakten Schaffens.
• Radikaler Bildausschnitt und summarische Formgebung: In dieser letzten Werkreihe innerhalb der "Stadtbilder" treibt Richter sein meisterliches Spiel zwischen Figuration und Abstraktion auf die Spitze.
• Im Jahr der berühmten Stadtansicht "Domplatz. Mailand" (1968) entstanden, die den aktuellen Spitzenpreis für ein gegenständliches Richter-Gemälde hält.
• Bereits 1972 publiziert im Katalog zur 36. Biennale in Venedig, auf der Richter Deutschland mit seinen schwarz-weißen Fotogemälden vertritt.
• Arbeiten dieser Werkgruppe befinden sich in bedeutenden internationalen Sammlungen, u. a. im Museum of Modern Art, New York, im San Francisco Museum of Modern Art sowie im Städel Museum, Frankfurt a. Main.
Wir danken Herrn Dr. Dietmar Elger, Gerhard Richter Archiv, Dresden, für die freundliche Auskunft.
PROVENIENZ: Buchmann Galerie, Berlin.
Privatsammlung (vom Vorgenannten erworben -2015, Christie's, London).
Privatsammlung Hessen (seit 2015).
AUSSTELLUNG: Gerhard Richter: Städte, Galerie René Block, Berlin 1969.
Gerhard Richter, Galerie Konrad Fischer, Düsseldorf 1970 (wahrscheinlich in einer Ausstellungsansicht sichtbar, vgl. Dietmar Elger, Gerhard Richter. Maler, Köln 2002, Abb. S. 226 (rechts hinten, aufgrund der Signatur um 180° gedreht).
Gerhard Richter - Städtebilder, Galerie Heiner Friedrich, München 1970.
LITERATUR: Dietmar Elger, Gerhard Richter. Catalogue raisonné, Bd. 1: 1962-1968 (Nr. 1-198), Ostfildern 2011, WVZ-Nr. 178-1 (m. Abb. sowie der Standortangabe "Present location unknown").
Gerhard Richter Werkübersicht / Catalogue raisonné 1962-1993, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Bonn 1993, S. 155, WVZ-Nr. 178-1 (m. Abb.).
- -
Gerhard Richter, 36. Biennale (Deutscher Pavillon), Venedig 1972, S. 40, Kat.-Nr. 178-1 (m. Abb. S. 64).
Gerhard Richter. Bilder/Paintings 1962-1985, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1986, S. 369 (m. Abb. S. 75).
Gerhard Richter, Notiz in seiner Arbeitsübersicht aus dem Jahr 1968, zit. nach: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007, Köln 2008, S. 53.
Öl auf Leinwand.
Verso signiert, datiert, betitelt "Stadt" sowie bezeichnet und mit dem Richtungspfeil. 53 x 43 cm (20,8 x 16,9 in). [JS].
• Richters "Stadtbilder" sind Teil seines bedeutenden schwarz-weißen Frühwerkes und zugleich Schlüsselwerke seines abstrakten Schaffens.
• Radikaler Bildausschnitt und summarische Formgebung: In dieser letzten Werkreihe innerhalb der "Stadtbilder" treibt Richter sein meisterliches Spiel zwischen Figuration und Abstraktion auf die Spitze.
• Im Jahr der berühmten Stadtansicht "Domplatz. Mailand" (1968) entstanden, die den aktuellen Spitzenpreis für ein gegenständliches Richter-Gemälde hält.
• Bereits 1972 publiziert im Katalog zur 36. Biennale in Venedig, auf der Richter Deutschland mit seinen schwarz-weißen Fotogemälden vertritt.
• Arbeiten dieser Werkgruppe befinden sich in bedeutenden internationalen Sammlungen, u. a. im Museum of Modern Art, New York, im San Francisco Museum of Modern Art sowie im Städel Museum, Frankfurt a. Main.
Wir danken Herrn Dr. Dietmar Elger, Gerhard Richter Archiv, Dresden, für die freundliche Auskunft.
PROVENIENZ: Buchmann Galerie, Berlin.
Privatsammlung (vom Vorgenannten erworben -2015, Christie's, London).
Privatsammlung Hessen (seit 2015).
AUSSTELLUNG: Gerhard Richter: Städte, Galerie René Block, Berlin 1969.
Gerhard Richter, Galerie Konrad Fischer, Düsseldorf 1970 (wahrscheinlich in einer Ausstellungsansicht sichtbar, vgl. Dietmar Elger, Gerhard Richter. Maler, Köln 2002, Abb. S. 226 (rechts hinten, aufgrund der Signatur um 180° gedreht).
Gerhard Richter - Städtebilder, Galerie Heiner Friedrich, München 1970.
LITERATUR: Dietmar Elger, Gerhard Richter. Catalogue raisonné, Bd. 1: 1962-1968 (Nr. 1-198), Ostfildern 2011, WVZ-Nr. 178-1 (m. Abb. sowie der Standortangabe "Present location unknown").
Gerhard Richter Werkübersicht / Catalogue raisonné 1962-1993, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III, Bonn 1993, S. 155, WVZ-Nr. 178-1 (m. Abb.).
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Gerhard Richter, 36. Biennale (Deutscher Pavillon), Venedig 1972, S. 40, Kat.-Nr. 178-1 (m. Abb. S. 64).
Gerhard Richter. Bilder/Paintings 1962-1985, Ausst.-Kat. Städtische Kunsthalle Düsseldorf, Düsseldorf 1986, S. 369 (m. Abb. S. 75).
Gerhard Richter, Notiz in seiner Arbeitsübersicht aus dem Jahr 1968, zit. nach: Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007, Köln 2008, S. 53.
Eine Besonderheit von Richters Malerei, die sich über sein ganzes Schaffen hin beobachten lässt, "ist das Arbeiten in Wiederholungen, Werkgruppen und Sequenzen, also ein Interesse an der Vervielfachung des Bildes", wie der schweizerische Kurator und Autor Dieter Schwarz 2014 anlässlich der im selben Jahr veranstalteten Retrospektive Gerhard Richters in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel bemerkt (zit. nach: Hubertus Butin, Unikate in Serie, Köln 2017, S. 12). Diese Aussage trifft auch auf dieses Stadtbild zu, das erste einer Reihe von acht weiteren, völlig unterschiedlichen Werken (178-1 bis 178-8), die jedoch eines gemeinsam haben: Sie sind alle in Schwarz-Weiß gehalten und basieren auf ausgeschnittenen Details, die Richter seinem Atlas-Blatt 124 aus dem Jahr 1968 entnimmt. Dieses "Stadtbild“ malt Richter 1968; es gliedert sich ein in eine Reihe von Stadtbildern, mit denen sich der Künstler Ende der 1960er Jahre intensiv beschäftigt. Sie gehören zu jenen frühen Fotomalereien, die ab den 1970er Jahren sein Schaffen dominieren, bevor Richter sich zunehmend abstrakten Themen zuwendet. Neben den Farbkarten, den Graubildern, den Seelandschaften und den Wolkenbildern spielen die Stadtbilder eine wichtige Rolle in dieser Phase.
Formale Verflüchtigung
Aus der Ferne betrachtet, bietet das Gemälde eine strenge, monochrome Nahaufnahme einer Gebäudelandschaft aus der Vogelperspektive. Bei der Annäherung jedoch lösen sich Richters scheinbar starre Geometrien in einem verschwommenen Nebeneinander von Flächen aus reichem Impasto auf. Mit ihren rasterartigen Strukturen und schrägen Blickwinkeln stellen sie die Lesbarkeit ihrer figurativen Sujets in Frage und verwandeln sie in eine illusionistische Vision der Realität. Die bisher akribische Detailgenauigkeit in seiner Fotomalerei ersetzt Richter durch kühne Gesten, welche die unscharfen Verzerrungen seiner früheren Arbeiten durch nachträgliches Verwischen noch verstärken. In den breiten Pinselstrichen und der formalen Verflüchtigung vom Ausgang der Malerei sehen wir die ersten Hinweise auf die befreite abstrakte Ausdrucksweise, die in den folgenden Jahrzehnten seine Praxis bestimmen sollte. Eine weitere besondere Wirkung seiner Malerei der 1960er Jahre erreicht Richter mit einer umfangreichen Palette von Grautönen, die es ihm ermöglicht, auf extreme Kontraste zu verzichten.
Das erste Stadtbild Richters ist die Ansicht des Domplatzes in Mailand, eine Auftragsarbeit für die Firma Siemens Elettra. Dieser Auftrag ist, Gerhard Richter in einem mit Hans Ulrich Obrist 1993 geführten Interview zufolge, der Beginn einer weiteren Beschäftigung mit Stadtansichten: "Ja, manchmal habe ich gerne Auftragsbilder gemacht, um etwas zu entdecken, worauf ich freiwillig nicht gekommen wäre. So gesehen hat Siemens mit dem Auftrag eines Stadtbildes alle folgenden Stadtbilder verursacht.“ (Dietmar Elger und Hans Ulrich Obrist (Hrsg.), Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2008, S. 308).
Es ist auffällig, dass Richter darauf verzichtet, den Dom als bekannteste Sehenswürdigkeit Mailands ins Zentrum des Bildes zu rücken. Stattdessen richtet sich sein Blick auf die unmittelbare Umgebung des Domes, auf den Platz und dessen säumende Architekturen, eine vielschichtige Projektion, die schon Robert Delaunay für seine Serie der Eiffelturm-Bilder gut fünfzig Jahre zuvor erfolgreich einsetzt. Und auffällig ist auch, dass Richter hier eine Art von prospektähnlicher Werbefotografie verwendet und erst in einer weiteren Stadtansicht Mailands erstmals eine Luftaufnahme heranzieht, eine Entscheidung, die zu diesem eindringlichen Werkkomplex der "Stadtbilder“ führt.
Beobachtender Blick
Die Stadtbilder beruhen größtenteils auf Fotografien aus Architekturzeitschriften, die städtebauliche Strukturen veranschaulichen, ohne dass diese durch die Titel identifizierbar wären. Wie für Richters Werk immanent, archiviert der Künstler diese Aufnahmen und dokumentiert sie mit seinem Kompendium "Atlas". Richter beschreibt sie als "Reflexionen über das neue Gesicht Europas und über die anderen überlebenden Reste des alten Europas“. (Vgl. Robert Storr, Gerhard Richter: Forty Years of Painting, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York, 2002, S. 42) Als Kind erlebt Gerhard Richter die Bombardierung Dresdens und so ist es nur folgerichtig, dass viele der Stadtbilder, insbesondere jene, die Ausschnitte aus der wuchernden städtischen Infrastruktur zeigen, an die Luftaufnahmen bombardierter Städte während des Zweiten Weltkriegs erinnern. In anderen Stadtbildern, so auch im vorliegenden Werk, widmet sich Richter auch den vermehrt ausdruckslosen Betonbauten, die in der Folge während des Wiederaufbaus entstehen. Die Gebäude der Nachkriegszeit erscheinen bei Richter wie eine architektonische Landschaft in Utopia: die Architekturen der Zukunft, hoch aufragend werden sie zu Symbolen des Aufschwungs! In den späten 1960er Jahren allerdings beginnt diese Vision der Erneuerung bereits zu verblassen. Die grauen, uniformen und gesichtslosen Leuchttürme der Hoffnung vermitteln ein tiefes Gefühl des Verlustes: ergreifende Erinnerungen an eine Geschichte, die niemals wiederhergestellt werden kann. Richters bewusste Abstraktion dieser Gebäude fängt genau diese Dynamik ein und rückt ihren Idealismus in eine verlockende Ferne. In dem Maße, in dem sich die Struktur in eine unbestimmte Masse von Farbe auflöst, verschwindet jeglicher Sinn für Funktion und Zweck. Das Gebäude wird zu einer Illusion, die sich unserem Zugriff entzieht.
Seine Kunst der 1960er Jahre geht also im Wesentlichen auf Beobachtung und Verwendung fotografischer Dokumente zurück. Auf die Frage von Rolf Schön in einem Interview 1972 mit Gerhard Richter, warum gerade die Fotografie eine so wichtige Rolle spiele, antwortet dieser: "Weil ich überrascht war vom Foto, das wir alle täglich so massenhaft benutzen. Ich konnte es plötzlich anders sehen, als Bild, das ohne all die konventionellen Kriterien, die ich vordem mit Kunst verband, mir eine andere Sicht vermittelte. Es hatte keinen Stil, keine Komposition, kein Urteil, es befreite mich vom persönlichen Erleben, es hatte erstmal gar nichts, war reines Bild. Deshalb wollte ich es haben, zeigen – nicht als Mittel für eine Malerei benutzen, sondern die Malerei als Mittel für das Foto verwenden“ (zit. nach: Gerhard Richter, Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln, 2008, S. 59). Fotos sind also zuweilen ein eher austauschbarer Malanlass, Ausgangspunkt und Zentrum von Richters künstlerischem Handeln. Das Gegenständliche undeutlich zu machen, damit die Unsicherheiten unserer Wahrnehmungen zu thematisieren, ist dabei Richters werkimmanentes Ziel. Zu seinen Strategien gehören Vergröberung, farbliche Verfremdung und der Einsatz von Unschärfe. Damit nimmt der Künstler seinen Sujets zuweilen die Eindeutigkeit, und mit dieser auch ein Stück Bedeutungslast. Richter entzieht diese Vorbilder ihrem ursprünglichen Kontext, indem er sie in einheitliches Grau oder Schwarz-Weiß taucht und diese Wirkung oft noch durch eingefügte Unschärfen verstärkt. Es entsteht also ein diffuser Eindruck, der ein der Aktualität enthobenes Erinnerungsbild assoziieren lässt, das er zum Bestandteil seiner Bilder macht und unsere Wahrnehmung prinzipiell auf die Probe stellt, wie geschehen in den ersten Jahren seines Tuns mit historischen Schwergewichten wie: "Bomber“ (1963), Bomben abwerfende Flugzeuge mit amerikanischen Hoheitszeichen; "Mustang-Staffel“ (1964), Englische Jäger aus dem Zweiten Weltkrieg; "Onkel Rudi“ (1965), ein Standbild des Verwandten in Uniform.
Die Farbe Grau hat bei all diesen Bildern eine vielfältige Funktion. Zunächst behauptet sie einen Realismus, in dem Richter Schwarz-Weiß-Fotovorlagen als unmittelbare Vorbilder zu erkennen gibt, somit einen unmittelbaren Bezug zur Fotografie herstellt. Darüber hinaus ist mit dem einheitlichen Grau eine Nivellierung verbunden, welche die thematischen Dimensionen verschleiert und eine malerische Verfremdung als vordergründiges Interesse des Künstlers vortäuscht. Indem er die Farbe aus den Bildern herausnimmt und auf unbunte Grauwerte beschränkt, zielt er zu diesem Zeitpunkt ganz bewusst auf einen malerischen Effekt, um das Pathos der Vergangenheit ins Spiel zu bringen. In dieser Hinsicht haben die Stadtbilder viel mit Richters See-, Berg- und Wolkenlandschaften aus dieser Zeit gemeinsam. Auch diese Sujets waren einst Symbole der Natur, die von den Romantikern des 19. Jahrhunderts als Merkmale der Bewunderung und Hoffnung verewigt wurden.
Fotografische Wahrhaftigkeit als Motiv
In Richters Stadtmalerei jedoch zerfällt ihre fotografische Wahrhaftigkeit in ein undurchdringliches Geflecht von Pinselstrichen und Flächen, die den Charakter ihres künstlichen Zusammenspiels offenbaren. In einer Erklärung zu den Stadtbildern beschließt Richter, das Konzept der "illusionistischen Malerei“ aufzugeben. "Ein Farbfleck sollte ein Farbfleck sein, und das Motiv muss keine Botschaft haben oder eine Interpretation zulassen“, schreibt er (Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln, 2008, S. 53). Richter stellt also das gesamte Konzept der visuellen Darstellung in Frage. Das Motiv wird somit unzugänglich, es bleibt nur die Malerei selbst, die Illusion einer Realität, die sich den Möglichkeiten der Kunst entzieht, die aber das Fundament seiner späteren abstrakten Praxis bilden wird.
Richters schwarz-weißes Frühwerk der 1960er Jahre hat unsere heutige Vorstellung von Gerhard Richters malerischem Werk wesentlich geprägt. Familienfotos, Abbildungen aus der Werbung und verschiedenen anderen Printmedien sind die Basis für Richters Porträts, Alpen- und Städtebilder dieser Jahre. Während Richter anfänglich seine auf die Leinwand vergrößerten Motive noch im Nachgang in ihren Konturen weich vermalt und damit seine berühmte malerische Unschärfe erzielt, beginnt er, wie hier im vorliegenden abstrahierten Städtebild, auch mit einer lockeren, groben und damit bereits per se unscharfen Malweise zu experimentieren. Diese das gegenständliche Motiv weitestgehend verfremdende Ausschnitthaftigkeit zeichnet ebenfalls das vorliegende Stadtbild Richters in ausgeprägter Weise aus. Richter malt sein "Stadtbild" im Jahr des berühmt gewordenen "Domplatz, Mailand“, welches 2013 bei Sotheby‘s in New York für rund 29 Millionen Euro zugeschlagen wird und damit bis heute als das teuerste gegenständliche Gemälde des Künstlers gilt. [MvL]
Formale Verflüchtigung
Aus der Ferne betrachtet, bietet das Gemälde eine strenge, monochrome Nahaufnahme einer Gebäudelandschaft aus der Vogelperspektive. Bei der Annäherung jedoch lösen sich Richters scheinbar starre Geometrien in einem verschwommenen Nebeneinander von Flächen aus reichem Impasto auf. Mit ihren rasterartigen Strukturen und schrägen Blickwinkeln stellen sie die Lesbarkeit ihrer figurativen Sujets in Frage und verwandeln sie in eine illusionistische Vision der Realität. Die bisher akribische Detailgenauigkeit in seiner Fotomalerei ersetzt Richter durch kühne Gesten, welche die unscharfen Verzerrungen seiner früheren Arbeiten durch nachträgliches Verwischen noch verstärken. In den breiten Pinselstrichen und der formalen Verflüchtigung vom Ausgang der Malerei sehen wir die ersten Hinweise auf die befreite abstrakte Ausdrucksweise, die in den folgenden Jahrzehnten seine Praxis bestimmen sollte. Eine weitere besondere Wirkung seiner Malerei der 1960er Jahre erreicht Richter mit einer umfangreichen Palette von Grautönen, die es ihm ermöglicht, auf extreme Kontraste zu verzichten.
Das erste Stadtbild Richters ist die Ansicht des Domplatzes in Mailand, eine Auftragsarbeit für die Firma Siemens Elettra. Dieser Auftrag ist, Gerhard Richter in einem mit Hans Ulrich Obrist 1993 geführten Interview zufolge, der Beginn einer weiteren Beschäftigung mit Stadtansichten: "Ja, manchmal habe ich gerne Auftragsbilder gemacht, um etwas zu entdecken, worauf ich freiwillig nicht gekommen wäre. So gesehen hat Siemens mit dem Auftrag eines Stadtbildes alle folgenden Stadtbilder verursacht.“ (Dietmar Elger und Hans Ulrich Obrist (Hrsg.), Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2008, S. 308).
Es ist auffällig, dass Richter darauf verzichtet, den Dom als bekannteste Sehenswürdigkeit Mailands ins Zentrum des Bildes zu rücken. Stattdessen richtet sich sein Blick auf die unmittelbare Umgebung des Domes, auf den Platz und dessen säumende Architekturen, eine vielschichtige Projektion, die schon Robert Delaunay für seine Serie der Eiffelturm-Bilder gut fünfzig Jahre zuvor erfolgreich einsetzt. Und auffällig ist auch, dass Richter hier eine Art von prospektähnlicher Werbefotografie verwendet und erst in einer weiteren Stadtansicht Mailands erstmals eine Luftaufnahme heranzieht, eine Entscheidung, die zu diesem eindringlichen Werkkomplex der "Stadtbilder“ führt.
Beobachtender Blick
Die Stadtbilder beruhen größtenteils auf Fotografien aus Architekturzeitschriften, die städtebauliche Strukturen veranschaulichen, ohne dass diese durch die Titel identifizierbar wären. Wie für Richters Werk immanent, archiviert der Künstler diese Aufnahmen und dokumentiert sie mit seinem Kompendium "Atlas". Richter beschreibt sie als "Reflexionen über das neue Gesicht Europas und über die anderen überlebenden Reste des alten Europas“. (Vgl. Robert Storr, Gerhard Richter: Forty Years of Painting, Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New York, 2002, S. 42) Als Kind erlebt Gerhard Richter die Bombardierung Dresdens und so ist es nur folgerichtig, dass viele der Stadtbilder, insbesondere jene, die Ausschnitte aus der wuchernden städtischen Infrastruktur zeigen, an die Luftaufnahmen bombardierter Städte während des Zweiten Weltkriegs erinnern. In anderen Stadtbildern, so auch im vorliegenden Werk, widmet sich Richter auch den vermehrt ausdruckslosen Betonbauten, die in der Folge während des Wiederaufbaus entstehen. Die Gebäude der Nachkriegszeit erscheinen bei Richter wie eine architektonische Landschaft in Utopia: die Architekturen der Zukunft, hoch aufragend werden sie zu Symbolen des Aufschwungs! In den späten 1960er Jahren allerdings beginnt diese Vision der Erneuerung bereits zu verblassen. Die grauen, uniformen und gesichtslosen Leuchttürme der Hoffnung vermitteln ein tiefes Gefühl des Verlustes: ergreifende Erinnerungen an eine Geschichte, die niemals wiederhergestellt werden kann. Richters bewusste Abstraktion dieser Gebäude fängt genau diese Dynamik ein und rückt ihren Idealismus in eine verlockende Ferne. In dem Maße, in dem sich die Struktur in eine unbestimmte Masse von Farbe auflöst, verschwindet jeglicher Sinn für Funktion und Zweck. Das Gebäude wird zu einer Illusion, die sich unserem Zugriff entzieht.
Seine Kunst der 1960er Jahre geht also im Wesentlichen auf Beobachtung und Verwendung fotografischer Dokumente zurück. Auf die Frage von Rolf Schön in einem Interview 1972 mit Gerhard Richter, warum gerade die Fotografie eine so wichtige Rolle spiele, antwortet dieser: "Weil ich überrascht war vom Foto, das wir alle täglich so massenhaft benutzen. Ich konnte es plötzlich anders sehen, als Bild, das ohne all die konventionellen Kriterien, die ich vordem mit Kunst verband, mir eine andere Sicht vermittelte. Es hatte keinen Stil, keine Komposition, kein Urteil, es befreite mich vom persönlichen Erleben, es hatte erstmal gar nichts, war reines Bild. Deshalb wollte ich es haben, zeigen – nicht als Mittel für eine Malerei benutzen, sondern die Malerei als Mittel für das Foto verwenden“ (zit. nach: Gerhard Richter, Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln, 2008, S. 59). Fotos sind also zuweilen ein eher austauschbarer Malanlass, Ausgangspunkt und Zentrum von Richters künstlerischem Handeln. Das Gegenständliche undeutlich zu machen, damit die Unsicherheiten unserer Wahrnehmungen zu thematisieren, ist dabei Richters werkimmanentes Ziel. Zu seinen Strategien gehören Vergröberung, farbliche Verfremdung und der Einsatz von Unschärfe. Damit nimmt der Künstler seinen Sujets zuweilen die Eindeutigkeit, und mit dieser auch ein Stück Bedeutungslast. Richter entzieht diese Vorbilder ihrem ursprünglichen Kontext, indem er sie in einheitliches Grau oder Schwarz-Weiß taucht und diese Wirkung oft noch durch eingefügte Unschärfen verstärkt. Es entsteht also ein diffuser Eindruck, der ein der Aktualität enthobenes Erinnerungsbild assoziieren lässt, das er zum Bestandteil seiner Bilder macht und unsere Wahrnehmung prinzipiell auf die Probe stellt, wie geschehen in den ersten Jahren seines Tuns mit historischen Schwergewichten wie: "Bomber“ (1963), Bomben abwerfende Flugzeuge mit amerikanischen Hoheitszeichen; "Mustang-Staffel“ (1964), Englische Jäger aus dem Zweiten Weltkrieg; "Onkel Rudi“ (1965), ein Standbild des Verwandten in Uniform.
Die Farbe Grau hat bei all diesen Bildern eine vielfältige Funktion. Zunächst behauptet sie einen Realismus, in dem Richter Schwarz-Weiß-Fotovorlagen als unmittelbare Vorbilder zu erkennen gibt, somit einen unmittelbaren Bezug zur Fotografie herstellt. Darüber hinaus ist mit dem einheitlichen Grau eine Nivellierung verbunden, welche die thematischen Dimensionen verschleiert und eine malerische Verfremdung als vordergründiges Interesse des Künstlers vortäuscht. Indem er die Farbe aus den Bildern herausnimmt und auf unbunte Grauwerte beschränkt, zielt er zu diesem Zeitpunkt ganz bewusst auf einen malerischen Effekt, um das Pathos der Vergangenheit ins Spiel zu bringen. In dieser Hinsicht haben die Stadtbilder viel mit Richters See-, Berg- und Wolkenlandschaften aus dieser Zeit gemeinsam. Auch diese Sujets waren einst Symbole der Natur, die von den Romantikern des 19. Jahrhunderts als Merkmale der Bewunderung und Hoffnung verewigt wurden.
Fotografische Wahrhaftigkeit als Motiv
In Richters Stadtmalerei jedoch zerfällt ihre fotografische Wahrhaftigkeit in ein undurchdringliches Geflecht von Pinselstrichen und Flächen, die den Charakter ihres künstlichen Zusammenspiels offenbaren. In einer Erklärung zu den Stadtbildern beschließt Richter, das Konzept der "illusionistischen Malerei“ aufzugeben. "Ein Farbfleck sollte ein Farbfleck sein, und das Motiv muss keine Botschaft haben oder eine Interpretation zulassen“, schreibt er (Gerhard Richter. Text 1961 bis 2007. Schriften, Interviews, Briefe, Köln, 2008, S. 53). Richter stellt also das gesamte Konzept der visuellen Darstellung in Frage. Das Motiv wird somit unzugänglich, es bleibt nur die Malerei selbst, die Illusion einer Realität, die sich den Möglichkeiten der Kunst entzieht, die aber das Fundament seiner späteren abstrakten Praxis bilden wird.
Richters schwarz-weißes Frühwerk der 1960er Jahre hat unsere heutige Vorstellung von Gerhard Richters malerischem Werk wesentlich geprägt. Familienfotos, Abbildungen aus der Werbung und verschiedenen anderen Printmedien sind die Basis für Richters Porträts, Alpen- und Städtebilder dieser Jahre. Während Richter anfänglich seine auf die Leinwand vergrößerten Motive noch im Nachgang in ihren Konturen weich vermalt und damit seine berühmte malerische Unschärfe erzielt, beginnt er, wie hier im vorliegenden abstrahierten Städtebild, auch mit einer lockeren, groben und damit bereits per se unscharfen Malweise zu experimentieren. Diese das gegenständliche Motiv weitestgehend verfremdende Ausschnitthaftigkeit zeichnet ebenfalls das vorliegende Stadtbild Richters in ausgeprägter Weise aus. Richter malt sein "Stadtbild" im Jahr des berühmt gewordenen "Domplatz, Mailand“, welches 2013 bei Sotheby‘s in New York für rund 29 Millionen Euro zugeschlagen wird und damit bis heute als das teuerste gegenständliche Gemälde des Künstlers gilt. [MvL]
124000932
Gerhard Richter
Stadtbild, 1968.
Öl auf Leinwand
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